Über neue Dimensionen im Frauenbefreiungskampf

In den 60/70ern fanden lange, blutige Befreiungskämpfe gegen diktatorische Regime statt. In der Frauenfrage konnte keine Revolution grundlegende Veränderungen durchzusetzen. Warum das aber in Kurdistan gelingen konnte, dieser Frage geht Manuel Demir nach.

In den 60er und 70er Jahren fanden in verschiedenen Teilen der Welt lange, blutige Befreiungskämpfe statt, die gegen Kolonialherrschaft oder gegen diktatorische Regime geführt wurden. Angeführt wurden die Befreiungsbewegungen meist von marxistisch beziehungsweise sozialistisch orientierten Organisationen und Parteien, die von der Sowjetunion oder der Volksrepublik China unterstützt wurden. Die Solidaritätsbewegungen in den westlichen Metropolen bildeten für Befreiungsbewegungen aber auch eine wichtige Hilfe. In den 70er Jahren stand die Solidarität mit dem Kampf des vietnamesischen Volkes oder der Palästinenser im Mittelpunkt linker, internationalistischer Politik in den westlichen Metropolen. Die vor allem von studentischen Kreisen getragenen Proteste gegen die US-Militärintervention, die Berichterstattung in den Medien und auch Kritik liberaler Kreise erzeugten einen nicht unerheblichen Druck auf die politischen Entscheidungsträger in Washington.

Die Befreiungskämpfe in Nicaragua und El Salvador rückten in den 80er Jahren in den Mittelpunkt der Solidaritätsbewegung, insbesondere in Westeuropa. Mit dem Sieg der Sandinisten schien die Isolation Kubas in der Region überwunden zu sein und das Vermächtnis Ernesto Che Guevaras, des großen Idols der internationalen Linken, schien in Erfüllung zu gehen. Inzwischen ist Vietnam, das einen jahrzehntelangen Kampf gegen die französischen und amerikanischen Imperialisten geführt hat, ein Teil des globalen Wirtschaftssystems. Nach dem Sturz der Somoza-Diktatur wurden die sozial-revolutionären Sandinisten Regierungspartei. Die palästinensische Befreiungsbewegung der 70er Jahre, in der linke Organisationen wie die DFLP noch eine Rolle gespielt hatten, ist tief gespalten und hat ihre einstige Bedeutung in der Region verloren.

Die einstigen revolutionären, antiimperialistischen Bewegungen und Parteien haben am Ende vieles von dem, was von ihnen erhofft und erwartet wurde, nicht erfüllen können. Weder in Algerien, noch in Angola oder Mozambique führte die Übernahme der Regierungsmacht durch links-orientierte Parteien und Organisationen zu einer grundlegenden Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung. Fast überall, wo ehemalige „national-demokratische“ oder sogar sozialistische Revolutionäre an die Regierungsmacht gelangten, herrschen heute Korruption, Vetternwirtschaft und Willkür unter autoritären Regierungen oder Diktaturen. Die koloniale Herrschaft wurde durch eine „nationale“ abgelöst, die nicht weniger undemokratisch und unterdrückerisch war beziehungsweise ist. Die unter großen Opfern erkämpften „unabhängigen Nationalstaaten“ in ehemaligen Kolonialgebieten bedeuten für das Volk meist kein Ende von Unterdrückung und Ausbeutung. Vor allem blieben die von Männern dominierten gesellschaftlichen und politischen Strukturen, unter denen die Frauen zu leiden hatten, weitgehend erhalten.

In manchen Teilen der Solidaritätsbewegung spielte diese Enttäuschung über den Verlauf der revolutionären Bewegungen sicherlich eine Rolle. Aber die nach 1968 entstandene linke Bewegung enttäuschte ebenfalls: Weder die „Neue Linke“ noch die traditionelle Linke, die beispielsweise nach dem Wahlsieg Francois Mitterands in Frankreich an die Regierung gelangte, konnte beziehungsweise wollte an den bestehenden sozialen und politischen Strukturen etwas Grundlegendes verändern.  Nirgends sonst haben so viele Intellektuelle oder Wissenschaftler sich so ausführlich mit den Ursachen und Folgen von Kolonialismus und Imperialismus befasst wie im Westen. Aber letztendlich haben ihre „Analysen“ keine Auswirkungen auf die traurige Realität der andauernden Unterdrückung und Ausbeutung in vielen Teilen der Welt. Die Solidaritätsbewegungen in den westlichen Metropolen erwiesen sich zeitweilig als eine wichtige Hilfe für die Befreiungskämpfe in anderen Teilen der Welt, aber sie konnte an den internationalen Herrschaftsverhältnissen nichts ändern.

Ob und wie die Linke sich jemals wieder in die sozialen und politischen Kämpfe in Europa einbringen kann, wird sicherlich noch lange diskutiert werden. Währenddessen aber wird erkennbar, dass der Nahe Osten, dessen Kernregion Mesopotamien/Kurdistan bildet, ein Brennpunkt einer neuen Befreiungsbewegung geworden ist. Dort ist eine revolutionäre Kraft entstanden, die ein neues Gesellschaftskonzept umsetzt, das eine konsequent-demokratische Perspektive für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen bietet. Das Besondere am Freiheitskampf ist, dass die Frauen dort erstmals in der Geschichte eine eigenständige, organisierte Bewegung geschaffen haben, die in der Lage ist, die hart erkämpften Errungenschaften zu verteidigen. Die ganze Dimension dieser neuen Frauenbewegung wird erst bei einem Vergleich mit den bisherigen Erfahrungen der sozialen und politischen Kämpfe deutlich.

In der Frauenfrage konnte keine Revolution grundlegende Veränderungen durchsetzen und die Emanzipation und umfassende Partizipation der Frauen voranbringen. Obwohl in den Kämpfen die Frauen eine bedeutende Rolle spielten, behielten in den einstigen revolutionären Parteien und Organisationen die Männer die Macht. Die Befreiung vom Kolonialismus und Imperialismus bedeutete also keineswegs auch eine Befreiung der Frauen. Wie die Wirklichkeit aussah, zeigt die Entwicklung nach der Oktoberrevolution in Russland: in den führenden Parteigremien waren Frauen stets nur gering vertreten. Im Politbüro, dem höchsten Gremium der KPdSU, gab es bis zum Zerfall der Sowjetunion lediglich zwei Frauen: 1957 wurde Jekaterina Furzewa als erste Frau Mitglied des Politbüros - bis 1961.  Fast 30 Jahre später wurde Galina Wladimirowna Semjonowa von 1990 bis 1991 die zweite Frau im Politbüro. In der Volksrepublik China, in der Sozialistischen Republik Vietnam oder auch in Kuba sah und sieht es nicht viel anders aus. Trotz einiger Fortschritte blieb die politische und soziale Lage der Frauen auch in diesen Ländern mehr oder weniger weit hinter den Erwartungen zurück.

Wie konnte ausgerechnet in einem zutiefst patriarchalisch, feudal und weitgehend islamisch geprägten Teil der Welt die Frauenbewegung einen so bedeutenden Durchbruch erzielen? Die Antwort darauf liegt in der Geschichte des Befreiungskampfes, der sich seit Ende der 70er Jahre fast unbemerkt entwickelt hat und heute in der gesamten Region die treibende Kraft des Freiheitskampfes darstellt. Ohne die Kenntnis der konkreten politischen und sozialen Bedingungen, unter denen diese Bewegung entstand, mag der Erfolg des Frauenbefreiungskampfes in Mesopotamien/Kurdistan wie ein großes Rätsel oder unerklärliches Phänomen erscheinen. Um dieses „Rätsel“ zu lösen beziehungsweise dieses „Phänomen“ zu verstehen, bedarf es einer verstärkten, breiten Aufklärungsarbeit. Das ist das mindeste, was heute in den westlichen Metropolen getan werden sollte, um die Frauenbewegung und den gesamten Prozess einer radikal-demokratischen Umgestaltung in der Region zu unterstützen.