Das Nationalstaatsmodell passt nicht zum Mittleren Osten

Der Mittlere Osten als Krisenzentrum kann mit dem Modell des Demokratischen Konföderalismus zum Zentrum der Lösung werden, erklärt Cemal Şerik als Mitglied des PKK-Zentralkomitees. Im ANF-Interview erläutert er den Hintergrund des Modells.

Das Nationalstaatsmodell passt nicht zum Mittleren Osten, sagt Cemil Şerik vom Zentralkomitee der PKK. Für das Modell des Demokratischen Konföderalismus liegen hingegen die passenden Voraussetzungen vor. Im ANF-Interview erläutert Cemil Şerik die Hintergründe der sich verschärfenden Krise im Mittleren Osten und möglichen Lösungsperspektiven.

Warum ist der Mittlere Osten das große Schlachtfeld der Zivilisationskrise?

Der Mittlere Osten liegt im Fokus des dritten Weltkrieges. Das ist kein Zufall, sondern steht im Zusammenhang mit der Realität der kapitalistischen Moderne. Eine Zivilisationskrise macht sich weniger im eigenen Zentrum als vielmehr in der Peripherie bemerkbar. Dafür gibt es viele Beispiele in der Geschichte. Es ist auch ein Anzeichen dafür, wo eine neue Zivilisation entsteht. Im Umfeld dieser Krisen verbreiten sich Volksbewegungen. Das findet gerade im Mittleren Osten sehr intensiv statt. Hier besteht sowohl ein Zusammenhang mit dem Zustand der globalen Kräfte als auch mit der Realität des Mittleren Ostens. Der Mittlere Osten ist der Ort, an dem Zivilisationen entstanden sind und das neolithische Zeitalter eingesetzt hat. Hier fand der Übergang zur Sesshaftigkeit statt. Sowohl die demokratische Zivilisation als auch die Zivilisation der Klassen und Staaten sind hier entstanden.

Der momentan im Mittleren Osten stattfindende Konflikt bewegt sich im Grunde genommen zwischen den Kräften der demokratischen Zivilisation und der staats- und klassenfixierten Zivilisation. Dieser Widerspruch besteht seit der Entstehung dieser Kräfte bis heute. Dass dieser Konflikt gewalttätiger geworden ist, liegt in der Realität der kapitalistischen Moderne begründet. Die kapitalistische Moderne erlebt intensive Widersprüche und versucht, sich innerhalb ihres eigenen Systems neu aufzustellen. Vor allem mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus sollte sie restauriert werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Realsozialismus für die Probleme der kapitalistischen Moderne verantwortlich gemacht worden. Mit seiner Auflösung fielen die Probleme wieder auf das System der kapitalistischen Moderne zurück. Dass diese erschwerten Widersprüche so stark im Mittleren Osten auftreten, liegt darin begründet, dass der Kapitalismus sich dort basierend auf dem Kapitalismus Europas geformt hat. Als ein Ergebnis sind Nationalstaaten und Nationalismus entstanden. Diesen Nationalstaaten sind die Stempel arabisch, türkisch oder persisch aufgedrückt worden. Mit der Restaurierung der kapitalistischen Moderne ist es zum Konflikt mit diesen Nationalstaaten gekommen, weil die globalen Mächte die Grenzen für sich wirkungslos machen wollten und kein Stück Boden mehr übrigbleiben sollte, das nicht im eigenen Dienst steht.

So ist der Mittlere Osten ins Visier genommen worden. Vorrangiges Ziel waren Länder, die früher dem Realsozialismus nahestanden, wie Irak, Syrien und Libyen. Gegen den Iran wurden Blockaden verhängt und andere Methoden eingesetzt, weil momentan die Bedingungen für eine direkte Auseinandersetzung nicht gegeben sind. Erst nach einer gewissen Säuberung der Umgebung wird angegriffen werden, die Weltmächte treffen bereits entsprechende Vorbereitungen.

Was ist der Zusammenhang zwischen den Nationalstaaten und den im Mittleren Osten entstehenden Volksbewegungen, deren vorgesehene Lösungen sich nicht weiter entwickeln?

Die Nationalstaaten im Mittleren Osten stehen im Widerspruch zu der hiesigen Realität. Der Mittlere Osten ist die Wiege verschiedener Zivilisationen, Kulturen und Glaubensrichtungen. Die verschiedenen Identitäten haben immer zusammengelebt und sich gegenseitig beeinflusst. Sie haben auch die Sprache und Kultur ihrer Nachbarn gelernt. Das gilt auch für die umliegenden Gebiete, die vom Mittleren Osten beeinflusst wurden, beispielsweise der Balkan, Thrakien, Nordafrika, Indien. Natürlich gab es bereits in der Vergangenheit auf Sklaverei aufbauende, feudale und kolonialistische Staaten im Mittleren Osten, aber selbst diese Staaten haben ihre Existenz nicht auf der Auslöschung anderer Identitäten aufgebaut. Später, in naher Vergangenheit, sind Genozide an Religionsgruppen oder Glaubensgemeinschaften wie den Eziden oder Christen verübt worden, aber im Allgemeinen haben die Gemeinschaften zusammengelebt.

Mit der Entstehung der Nationalstaaten im Mittleren Osten wurden diese unterschiedlichen Identitäten, Kulturen und Glaubensgruppen gegeneinander aufgehetzt und Nationalismus breitete sich aus. Diese Entwicklung zeigte sich zuerst im Osmanischen Reich. Der Turanismus, der den türkischen Nationalismus darstellt, wollte eine Vereinigung der Turkvölker, dabei spielte jedoch auch der Islam eine Rolle, beides wurde miteinander vermischt. Der arabische Nationalismus entstand erst später. Die Nationalstaaten standen von Anfang im Konflikt mit der Realität des Mittleren Ostens, das ist also nichts Neues. Der Mittlere Osten birgt einen großen kulturellen Reichtum. Er ist wie ein Mosaik und somit unvereinbar mit staatlichem Nationalismus.

Im Mittleren Osten besteht ein Konflikt zwischen der kapitalistischen Moderne und der demokratischen Moderne, der sehr konkret in Kurdistan auftritt und alle Völker der Region beeinflusst. Er bringt die Völker gegen die Nationalstaaten und die globalen Kräfte zusammen und es entsteht bis zu einem gewissen Grad Bewegung. Die Nationalstaaten widersetzen sich einer Veränderung, aber nicht den globalen Kräften.

Was beinhaltet das Projekt „Demokratischer Konföderalismus“, das Abdullah Öcalan als grundlegendes Lösungsmodell für die Krise im Mittleren Osten vorsieht? Kann es eine Lösung darstellen?

Es entspricht der Realität des Mittleren Ostens und seinem kulturellen Mosaik, von dem ich gesprochen habe. Sprachen, Kulturen und Glaubensrichtungen haben sich gegenseitig beeinflusst und sind ineinander übergegangen. Demokratischer Konföderalismus bedeutet, dass die demokratische Zivilisation auf Bewusstsein und Organisierung trifft. Die Grundlagen dafür gibt es ohnehin im Mittleren Osten. Abdullah Öcalan spricht davon, dass der Mittlere Osten der Ort ist, an dem sich die demokratische Moderne am ehesten entwickeln kann. Nationalismus und Nationalstaaten passen nicht zur Realität des Mittleren Ostens. Trotzdem gibt es sie und sie produzieren kontinuierlich Probleme.

In diesen Nationalstaaten leben verschiedene Gemeinschaften, Völker und religiöse Gruppen zusammen. Die herrschenden Kräfte stacheln den Nationalismus und religiösen Fanatismus an, um die Konflikte zwischen diesen Gruppen lebendig zu halten, zum Beispiel zwischen Schiiten und Sunniten, Christen und Moslems, Juden und Moslems. Wenn dagegen nicht wirksam vorgegangen wird, wird der Mittlere Osten ein Zentrum dauerhafter Konflikte bleiben. Um diese Gefahr zu bannen, müssen Maßnahmen getroffen werden. Abdullah Öcalan hat zu verschiedenen Zeiten seine Meinung dazu geäußert. Als er zum Beispiel in Gefangenschaft genommen wurde, wollten die herrschenden Kräfte einen türkisch-kurdischen Krieg hervorrufen. Öcalan hat das verhindert und in passender Form seine Einstellung dargelegt. In seinen Thesen standen die Geschwisterlichkeit der Völker und eine demokratische Einheit im Vordergrund. Damit hat er die schmutzigen Machenschaften der Herrschenden ins Leere laufen lassen und einen Krieg verhindert, der hundert Jahre hätte andauern können.

Im Mittleren Osten wird die Durchsetzung des Demokratischen Konföderalismus angestrebt. Dabei gibt es zwei Ebenen. Es muss eine Politik in den Vordergrund treten, die innerhalb der Nationalstaaten im Mittleren Osten Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen verhindert. Konkreter Ausdruck dessen ist die Anerkennung der Unterschiedlichkeiten durch den Staat und damit die Schaffung der Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben. Der Demokratische Konföderalismus ist die politische Form dafür. Das gilt für alle Bevölkerungsgruppen, die innerhalb der Grenzen von Iran, Irak, Syrien und Türkei leben. Diese Gemeinschaften haben darüber hinaus jedoch noch weitere Besonderheiten. Beispielsweise leben die Kurden nicht nur innerhalb der Staatsgrenzen der Türkei, sondern auch im Irak, in Syrien und im Iran. Sie stellen eine Nation dar und haben eine gemeinsame Sprache und Kultur. Entsprechend muss auch zwischen ihnen eine Einheit entstehen. Das gleiche gilt auch für die Araber. Es wird von 23 arabischen Staaten gesprochen, aber es gibt wie in der Türkei und im Iran auch Araber, die in anderen Staaten leben. Auch sie müssen untereinander eine Gemeinschaft bilden.

Wie soll das gehen? Solange sie in Nationalstaaten gefangen bleiben, droht den verschiedenen Gemeinschaften der Niedergang oder die Vernichtung. Wie kann das verhindert werden? Indem sie über die Staatsgrenzen hinweg Beziehungen aufbauen und ihre nationalen Gemeinsamkeiten in eine politische Gemeinsamkeit verwandeln.

Der Gedanke des Demokratischen Konföderalismus beruht in der Praxis also auf zwei Standbeinen. Zum einen organisiert sich jede Nation selbst, zum anderen gibt es eine Gemeinsamkeit mit den anderen Gemeinschaften, die innerhalb bestimmter Grenzen leben. Die Grundlagen dafür gibt es im Mittleren Osten sowieso. Wichtig ist es, diesen Grundlagen einen politischen Rahmen zu geben. Konkret bedeutet es, dass die innerhalb der Grenzen der Türkei lebenden Kurden eine Partnerschaft mit den anderen dort existierenden Gemeinschaften eingehen und gleichzeitig mit den Kurden, die in Süd-, Ost- und Westkurdistan, also in anderen Staaten leben. Es geht also um demokratisch-konföderale Beziehungen als Ausdruck einer Gesamtheit.

Warum wollen globale und regionale Kräfte die Umsetzung dieses Projekts in Nord- und Ostsyrien Ihrer Meinung nach verhindern? Was ist die Rolle der Türkei dabei?

Nord- und Ostsyrien ist ein Gebiet, in dem diese demokratisch-konföderalen Beziehungen konkret stattfinden. Der von Abdullah Öcalan für den Mittleren Osten vorgesehene Demokratische Konföderalismus wird dort umgesetzt. Syrien und der Libanon sind keine Länder, die nur einem Volk gehören. Es gibt hier viele religiöse und kulturelle Gruppen und Identitäten, die miteinander leben. In einer Kleinstadt leben zum Beispiel in einem Viertel Kurden, in einem Araber, in einem Armenier und einem Assyrer. Und in der Umgebung gibt es auch noch Turkmenen, Tscherkessen und Drusen. Selbst in Dörfern leben manchmal mehrere Identitäten zusammen. Daher ist es nicht das Land nur einer Identität. Die Menschen trinken dasselbe Wasser und nutzen die gleichen Wege. In Nord- und Ostsyrien wird der politische Inhalt dieser Realität gelebt. Verschiedene Identitäten und Kulturen sind in den gleichen Räten, Kommunen und Kooperativen vertreten und sorgen gemeinsam für ihre Selbstverteidigung.

Die Nationalstaaten und die Kräfte des globalen Kapitals betrachten das in Nord- und Ostsyrien organisierte Leben als Gefahr für sich selbst. Der Hauptkampf im Mittleren Osten findet zwischen der demokratischen Moderne und der kapitalistischen Moderne statt. Die demokratische Moderne hat sich in Nord- und Ostsyrien konkretisiert. Dieses System ist für die syrische Zentralregierung nicht hinnehmbar, weshalb sie den arabischen Nationalismus in den Vordergrund stellt. Der türkische Staat hat einen bedeutenden Teil Nordsyriens besetzt. Das syrische Regime spricht davon, ein Staat zu sein, dessen Grenzen respektiert werden müssen. Warum befindet es sich dann nicht im Krieg gegen die Türkei? Das gilt auch für andere Staaten und sogar für die Türkei. Trotz der innerarabischen Widersprüche vereinigen sich alle Staaten gegen das Modell Nord- und Ostsyriens. Die von Abdullah Öcalan vorgelegte Idee einer demokratischen Moderne und des Demokratischen Konföderalismus als konkreter politischer Ausdruck macht den Weltmächten Angst. Sie wissen, dass die hiesigen Erfolge das Ende ihrer eigenen Systeme bedeuten können.