Cemil Bayik: Es geht nicht um einen Staat, es geht um Freiheit

Früher hat niemand das kurdische Volk verteidigt. Niemand kannte die Kurden, niemand hat ihren Kampf gesehen, es gab keine Unterstützung. Durch ihren Widerstand sind sie jetzt weltweit präsent. Sie sind zu einer Hoffnung geworden.

Als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat sich Cemil Bayik in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu Positionen der Großmächte in Syrien, die Gespräche zwischen dem syrischen Regime und der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens und der weltweiten Wirkung des Widerstands von Rojava geäußert. Wir veröffentlichen den zweiten Teil seines Beitrags.

Im Syrien-Krieg unterstützen Russland und der Iran das syrische Regime. Auf der anderen Seite gibt es die USA und die Kräfte der internationalen Anti-IS-Koalition. Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien hingegen vertritt eine dritte Linie. Wie wird das Vorgehen dieser Kräfte untereinander künftig aussehen?

Richtig, zwischen diesen Kräften bestehen Widersprüche, allerdings nicht zu jedem Thema. Sie bemühen sich, ihre jeweiligen Vorhaben und Interessen gegeneinander durchzusetzen. Die Widersprüche zwischen den USA und Russland sind nicht mehr wie zur Zeit des kalten Krieges. Damals gab es verschiedene Seiten. Wer auf der einen Seite stand, war automatisch gegen die andere. Es handelte sich um immense Widersprüche, die zu einem gegenseitigen Vernichtungskrieg hätten führen können. Nach der Auflösung der Sowjetunion blieb nicht mehr viel davon übrig. Was sind die momentanen Widersprüche? Es geht jetzt darum, wer sich weiter entwickelt und wer im Mittleren Osten und in Syrien einen größeren Raum einnimmt.

Die Kräfte der demokratischen Autonomie in Nordsyrien haben sich seit Beginn des Syrien-Krieges bis heute weder auf die Seite Russlands noch auf die der USA gestellt. Entsprechend ihrer Politik des dritten Weges sind sie Beziehungen zu beiden Mächten eingegangen, um ihren Kampf zu führen. Dieser Kampf hat zu vielen guten Ergebnissen geführt. Der dritte Weg ist der richtige. Damit können die Völker ihre Errungenschaften verteidigen. In dem herrschenden Chaos hat der türkische Staat die Gelegenheit gesehen, um seine Vernichtungspolitik auszuführen. Er will Rojava und ganz Nordostsyrien besetzen. Erdoğan hat ja selbst gesagt, dass er bis in den Irak gehen will. Gegen diese Besatzung gibt es Widerstand. Es wird sich zeigen, welchen Einfluss Besatzung und Widerstand auf den Mittleren Osten haben werden.

Die Türkei ist in Syrien eingedrungen, aber das hat sie nicht mit ihren eigenen Kräften getan. Die USA und Russland haben die Besatzung zugelassen und herausgefordert. Die Türkei wollte den Einmarsch in Syrien, um einen Status für die Kurden zu verhindern und ihre Errungenschaften zu zerstören. Sie wollte verhindern, dass in Syrien ein demokratisches System entsteht, das sich auf die Türkei auswirken könnte. Auf der anderen Seite wollte sie im Syrien-Krieg Gewicht zeigen. Ihr Ziel ist die Entstehung eines neuen Osmanischen Reichs. Die USA und Russland benutzen die Türkei natürlich für ihre eigenen Interessen. Die Türkei sollte die Kurden schwächen, um sie abhängig von ihnen zu machen. Sie haben erkannt, dass sie ohne die Kurden im Mittleren Osten nicht zu den gewünschten Ergebnissen kommen.

Die Kurden sind eine grundlegende Kraft im Mittleren Osten. Wer diese Kraft auf seiner Seite hat, kann im Mittleren Osten Ergebnisse erzielen. Aus diesem Grund wollten sowohl die USA als auch Russland, dass die Türkei in Syrien einmarschiert. Auf der einen Seite wollten sie über die Türkei ihre eigenen Interessen durchsetzen. Dort gibt es eine Revolution und eine Guerilla und das gibt der Bevölkerung Hoffnung. Das sollte unterbunden werden, die Revolution sollte getroffen werden. Die USA und Russland gehen gemeinsam gegen die Völker und den Sozialismus vor. Die Türkei balanciert dazwischen und profitiert von den Widersprüchen zwischen den USA und Russland. Sie benutzt die NATO und die EU für sich selbst und betrachtet sie als Gelegenheit.

Es ist davon ausgegangen worden, dass die Kurden und die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) in Serêkaniyê und Girê Spî kapitulieren werden. Es hat jedoch ein großer Widerstand stattgefunden, der die Türkei geschwächt und dazu geführt hat, dass die offenkundige Realität sichtbar wurde. Alle haben die Realität der USA, Russlands, der Türkei und der Islamisten gesehen. Auch die Realität der Kurden und von Rojava wurde gesehen. Aus diesem Grund sind die USA und die Türkei in Bedrängnis geraten. Um aus dieser schwachen Position herauszukommen, haben sie ein Bündnis geschlossen. Sie wollten den Widerstand von Rojava schwächen, der jedoch von Menschen weltweit unterstützt wird. Auch Russland und die Türkei haben ein Bündnis gegen die Völker, die sozialistischen Bewegungen, gegen Rojava und die Kurden geschlossen.

Zwischen dem syrischen Regime und der Autonomieverwaltung finden Gespräche statt. Welche Haltung hat die KCK zu diesen Gesprächen?

Die Autonomieverwaltung hat niemals davon gesprochen, einen gesonderten Staat zu gründen und Syrien zu spalten. Sie hat immer erklärt, ein Teil Syriens zu sein, und zu einer demokratischen Lösung der bestehenden Probleme aufgefordert. Daher wollte sie immer Gespräche mit der syrischen Regierung führen. Das ist auch der richtige Weg, denn es geht ihnen nicht um einen eigenen Staat, sondern um Freiheit. Wesentlich ist eine freie Gesellschaft, die mit einem eigenen Willen, eigener Identität, Kultur und eigenen Werten leben kann. Wir wissen nicht, um welche grundsätzlichen Fragen es bei den Gesprächen geht, aber die Autonomieverwaltung will die Probleme innerhalb Syriens lösen. Und diesen Ansatz finden wir richtig.

Zwischen den Staaten findet für ihre eigenen Interessen ein reger diplomatischer Verkehr statt. Können wir sagen, dass auch die Völker in dieser Zeit erfolgreich auf diplomatischem Gebiet sind?

Bekanntlich ist bereits früher der 1. November zum Welt-Kobanê-Tag ausgerufen worden. In diesem Jahr ist gegen die Besatzung von Serêkaniyê und Girê Spî der 2. November zum Welt-Rojava-Tag erklärt worden. Am 2. November haben die Völker der Welt Widerstand gezeigt. Der Widerstand in Nord- und Ostsyrien ist zum Widerstand der Völker des Mittleren Ostens und weltweit geworden. Dieser Widerstand hat dafür gesorgt, dass die Realität des türkischen Staates und das Handeln Russlands und der USA allgemein sichtbar geworden sind. Es ist auch sichtbar geworden, wie der Widerstand des kurdischen Volkes sich entwickelt hat, wie sehr die Kurden in die Freiheit verliebt sind und wie grundlegend Geschwisterlichkeit und ein demokratisches Leben für sie sind. Alle haben gesehen, dass dieser Widerstand nicht nur für die Kurden geleistet wird, sondern für die Menschheit weltweit. Der Widerstand hat die Verbindungen zwischen den Völkern gestärkt.

Gleichermaßen ist auch die innerkurdische Einheit gestärkt worden. Der Widerstand war wie ein Weckruf für die Kurden, die Völker der Region, die gefangenen Völker und die Menschen, die für Freiheit und Demokratie kämpfen. Er hat gezeigt, dass es eine Alternative zum kapitalistischen System geben kann und dass der demokratische Konföderalismus diese Alternative ist. Sie kann sich noch weiter entwickeln und eine noch größere Alternative werden. In dieser Hinsicht hat der Widerstand sowohl für das kurdische Volk als auch für die Völker, die Demokratie und Freiheit wollen, einen großen Gewinn hervorgebracht.

Früher hat niemand das kurdische Volk verteidigt. Niemand kannte die Kurden, niemand hat ihren Kampf gesehen, es gab keine Unterstützung. Durch ihren Widerstand sind sie jetzt weltweit präsent. Sie sind zu einer Hoffnung geworden. Auch viele Akademikerinnen und Akademiker haben öffentlich erklärt, das kurdische Volk und seinen Kampf zu unterstützen. Für die Kurden bedeutet das einen großen Gewinn auf diplomatischem Gebiet. Nie zuvor haben sich so viele Menschen weltweit für das kurdische Volk eingesetzt.