Als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat sich Cemil Bayik in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu den weltweiten Protestbewegungen und der Situation in Syrien geäußert. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt seines Beitrags in zwei Teilen.
Weltweit sind die Menschen nicht mit der kapitalistischen Moderne zufrieden. Von Chile über Kurdistan bis Frankreich gehen die Menschen auf die Straßen und fordern ihre Rechte ein. Auf der anderen Seite kommen faschistische Regierungen an die Macht. Was bedeuten diese Angriffe, die sich gegen Frauen, die Jugend und die gesamte Bevölkerung richten? Wie entstehen die Widerstandsbewegungen?
Die kapitalistische Moderne befindet sich in einer Krise und durchlebt ein großes Chaos. Es handelt sich um eine Krise der Herrschenden, die Staaten gegründet haben. Dieses System funktioniert nicht mehr. Es löst die Probleme der Menschheit nicht, denn es lebt von diesen Problemen. Wer Probleme erschafft, kann keine Lösung dafür erfinden. Die Völker der Welt begreifen das zunehmend. Sie bringen ihre Unzufriedenheit mit diesem System zum Ausdruck. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind den Menschen viele Möglichkeiten genommen worden. Obwohl das sowjetische System viele Fehler und Mängel hatte, hatte es doch eine große Wirkung auf die Völker.
In der damaligen Zeit war Sozialismus von großem Wert. Alle gefangenen und armen Völker waren davon beeinflusst. Damit die Menschen nicht auf den Sozialismus setzen, die sozialistischen Bewegungen nicht mächtiger werden und das System der kapitalistischen Moderne nicht in Gefahr gerät, wurden den Menschen einige Möglichkeiten zugestanden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fanden gnadenlose Angriffe auf die Ideologie des Sozialismus statt. Der Sozialismus war angeblich keine Lösung und die kapitalistische Moderne die einzige Lösung für die Völker. Es wurde großartige Propaganda gemacht und den Menschen wurden nach und nach die wenigen Rechte genommen, die ihnen vorher als Gegenpol zum Realsozialismus zugestanden worden waren.
Heute werden die Völker immer mehr vereinnahmt. Die Masse wird immer ärmer, die Reichen immer reicher. Die Menschen sehen das und zeigen ihre Unzufriedenheit. Das sehen wir in Lateinamerika, im Mittleren Osten und in Europa. Manche Regierungen erklären, dass sie einige Forderungen erfüllt haben und die Bevölkerung trotzdem nicht zufrieden ist.
Die Völker positionieren sich gegen Staat und Macht. Das ist eine gute Entwicklung, aber es gibt Schwächen in der Führung. Daher erzielen die Widerstandsbewegungen trotz massiver Proteste keine Ergebnisse. Das System der kapitalistischen Moderne sieht das und schränkt die Rechte der Menschen noch weiter ein. Es geht mit Druck und Gewalt gegen die Völker vor. Das nehmen die Menschen nicht hin. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte der Sozialismus sich nicht wieder fangen und den Menschen keine Alternative bieten. Die demokratischen Sozialisten waren ohnehin zuvor in eine Beziehung mit dem System getreten und es gab nichts mehr, was sie den Völkern hätten geben können. Und die Liberalen waren längst Teil des Systems. Das wurde nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus noch deutlicher.
Sie stärkten ihr Bündnis mit dem Kapitalismus. Die Machthabenden stellten sich hinter ihr System und wollten die Probleme angeblich lösen. Mit diesem Versprechen wurden die Menschen getäuscht. Es ging nur um einen Ausbau der Macht. Aus diesem Grund kommen weltweit Konservative und Faschisten an die Macht. In diesem Chaos müssen die sozialistischen Bewegungen ihre Rolle erfüllen. Sie sind jedoch schwach und stellen keine Alternative dar. Die Konservativen beziehen daraus Kraft und bleiben an der Macht. Aber die Völker lassen sich nicht mehr betrügen, denn die Basis der sozialistischen Bewegungen wird immer stabiler. Die Zeit der Herrschenden geht vorbei. Die Menschheit befindet sich im Moment auf der Suche. Auch Rebêr Apo [Abdullah Öcalan] hat gesagt, dass die Zeit der Völker angebrochen ist. Die sozialistischen Bewegungen müssen umgehend ihre ungelösten Probleme bewältigen. Sie müssen für die Menschheit eine Alternative zur kapitalistischen Moderne entwickeln.
Welche Stufe hat der dritte Weltkrieg im Jahr 2019 erreicht? Im Frühjahr haben die Völker von Rojava und Syrien dem sogenannten „Islamischen Staat“ ein Ende bereitet. Mit der Besatzung der Türkei hat sich der Kriegszustand in Syrien vertieft. In welche Richtung bewegt sich der Krieg in Syrien?
Der stattfindende dritte Weltkrieg wird weitergehen und sich vertiefen. Die Staaten haben diesen Krieg früher mit anderen Kräften geführt. Sie haben verbündeten Gruppen geholfen. Dieser Krieg ging fast vorbei, aber jetzt sind die Staaten selbst vor Ort und in den Krieg eingetreten. Inzwischen führen die Staaten diesen Krieg. Zu dieser Veränderung ist es im dritten Weltkrieg gekommen. In Syrien ist ein großer Kampf gegen den IS geleistet worden. Dem IS wurde ein harter Schlag versetzt und seine Territorialherrschaft wurde beendet. Aus diesem Grund ist die Türkei selbst in den Krieg eingetreten. Organisationen wie der IS entstehen im Mittleren Osten, weil die Probleme nicht demokratisch gelöst werden.
Es wird behauptet, dass der IS besiegt ist, aber das stimmt nicht. Es stimmt nicht einmal auf militärischer Ebene. Der IS existiert militärisch, politisch und gesellschaftlich weiter. Das System der kapitialistischen Moderne hat den IS gegründet. Solange dieses System und die Staaten im Mittleren Osten existieren, wird es weiter derartige Organisationen geben. Es gibt nichts, was die kapitalistische Moderne dem Mittleren Osten geben könnte. Sie stellt für die Menschheit und für den Mittleren Osten eine große Gefahr dar und richtet Schaden an. Im Mittleren Osten kämpfen alle für den eigenen Profit, aus diesem Grund wird der Krieg weitergehen.
Die USA und Russland stehen an der Spitze der kriegsführenden Staaten im Mittleren Osten. Beide verfolgen eigene Interessen. Auch die Türkei verfolgt ihre eigenen Interessen. Sie profitiert von den Widersprüchen und ist gleichzeitig NATO-Mitglied. Auch mit der EU führt sie Beziehungen. Die Türkei ist in Syrien einmarschiert, von Efrîn über Serêkaniyê [Ras al-Ain] bis nach Girê Spî [Tall Abyad]. Sie hat diese Gebiete besetzt und will mit der Ansiedlung ihrer Islamisten den Krieg in Syrien vergrößern. Weil die Islamisten ihren Zweck nicht erfüllt haben, ist die Türkei selbst in den Krieg eingetreten. Es ist allgemein bekannt, dass die Türkei überall Probleme hinbringt. Wo der türkische Staat ist, gibt es keine Ruhe und Stabilität, sondern Krieg und Chaos. So ist es auch in den von der Türkei besetzten Gebieten in Syrien. Die Türkei ist gegen die Kurden und gegen Demokratie. Der Grund für den Einmarsch in Syrien ist das Verlangen, die kurdischen Errungenschaften zu zerstören und zu verhindern, dass die Kurden einen Status erhalten.
Wenn die Kurden einen offiziellen Status bekommen, würde in Syrien eine demokratische Situation entstehen. Das hätte auch in der Türkei eine große Wirkung. AKP und MHP könnten sich nicht mehr an der Macht halten. Sie verhindern einen Status für die Kurden in Syrien, um an der Macht zu bleiben, die Kurden zu vernichten und ein neues Osmanisches Reich zu erschaffen.
Morgen: Die Positionen der Großmächte in Syrien und die Meinung der KCK zu den Gesprächen zwischen dem syrischen Regime und der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens