Cemil Bayik, Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), hat in einem Programm bei Stêrk TV Fragen des Journalisten Ciwan Tunç zu den Entwicklungen im Mittleren Osten und der kurdenfeindlichen Haltung des türkischen Staates beantwortet.
Bayik würdigte zunächst den Kampf gegen die türkische Besatzung in Rojava und die Gefallenen. Anschließend erklärte er zusammengefasst:
Im Mittleren Osten findet der dritte Weltkrieg statt. Dieser Krieg hat zwei Dimensionen. Die erste betrifft die Welt, die zweite den Mittleren Osten. Der Mittlere Osten ähnelt keiner anderen Region auf der Welt, er hat sehr spezifische Besonderheiten. Alles hat im Mittleren Osten begonnen. Der Mittlere Osten spielt eine wesentliche und bestimmende Rolle für das weltweite Gleichgewicht.
Nach der Auflösung der Sowjetunion sind die Machtverhältnisse im Mittleren Osten ins Wanken geraten, es entstand ein Vakuum. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich als führende Kraft der kapitalistischen Moderne verstehen, haben im Mittleren Osten interveniert, um dieses Vakuum zu füllen. Damit hat der dritte Weltkrieg angefangen. Die regionalen Regierungen, die den Erwartungen nicht entsprochen haben, wurden ausgetauscht. Es wurde damit begonnen, neue Machthaber zu installieren, die dem System dienlich sind.
Wie die Welt künftig sein wird
Im Mittleren Osten findet ein intensiver Krieg statt. Es ist zu vielen Veränderungen gekommen und es wird weitere Veränderungen geben. Die Völker und Regierungen des Mittleren Ostens können nicht so weiter machen wie früher. Der Status quo der Zeit vor dem dritten Weltkrieg wird sich ändern. Im Mittleren Osten entsteht eine neue Situation.
Bekanntlich gab es im ersten und zweiten Weltkrieg gegnerische Fronten. Die machthabenden Kräfte dieser Fronten haben nach dem Krieg einen Status quo hergestellt. Im dritten Weltkrieg gibt es solche Fronten nicht mehr. Die machthabenden Kräfte kämpfen gegeneinander und führen gleichzeitig Beziehungen miteinander. Auf der anderen Seite stehen die Völker der Region, die sich organisiert haben und kämpfen. Der neue Status quo wird nicht nur von den Machthabern bestimmt werden. Sie können nicht mehr nur nach eigenem Belieben vorgehen, sondern müssen den Kampf der Völker berücksichtigen. Der neu entstehende Status und die Gleichgewichte in der Region werden auf dieser Grundlage entstehen. Das heißt, dass der Kampf der Völker des Mittleren Ostens die neuen Gleichgewichte beeinflusst. Der im Mittleren Osten stattfindende Krieg wird einhergehend mit einem neuen Status der Region auch bestimmen, wie die Welt künftig sein wird.
Beispiel Rojava: Krieg gegen eine Befreiungsbewegung der Völker
Die Türkei bemüht sich, alles Kurdische vom Erdboden zu tilgen. Die Kurden sollen verschwinden. Die Kräfte, die heute das System im Mittleren Osten anführen, wollen keine vollständige Vernichtung des kurdischen Volkes, weil sie sehen, dass das nicht möglich ist. Früher haben sie eine solche Politik verfolgt und entsprechend die Türkei unterstützt. In Anbetracht des entstandenen kurdischen Bewusstseins und des Kampfes der Kurden haben sie begriffen, dass es nicht möglich ist. Daher gehen sie mit den Kurden anders um als die Türkei. Zweifellos sind sie trotzdem gegen die kurdische Befreiungsbewegung und gegen freie Kurden. Sie wollen ein kurdisches Volk schaffen, das den eigenen Interessen dient. Diese Situation führt zu Widersprüchen zwischen ihnen und der Türkei. Sie denken nicht gleich. Die eine Seite will eine vollständige Vernichtung, die andere Seite will Kurden im eigenen Dienst. Dieser Widerspruch ist jedoch taktischer Natur. Wie am Beispiel Rojava zu sehen ist, wird alles getan, um zu verhindern, dass sich eine Befreiungsbewegung der Völker entwickelt.
Die USA als Vorreiter der kapitalistischen Moderne wollten eigenständig Veränderungen im Mittleren Osten herbeiführen. Das ist ihnen jedoch nicht gelungen, denn weder das System der kapitalistischen Moderne noch die Führungsrolle der USA ist noch wie früher. Daher sind Russland und China im Mittleren Osten auf den Plan getreten. Vor allem in Syrien ist Bewegung entstanden. Zwischen den Kräften der kapitalistischen Moderne gibt es Widersprüche, gleichzeitig findet jedoch eine Zusammenarbeit statt. Es gibt keine klaren Fronten mehr.
Kurdische Frauen: Widerstand gegen jede Form der Besatzung
So wie die machthabenden Kräfte an angebrachter Stelle gemeinsam vorgehen, müssen sich auch die Völker der Region gemeinsam bewegen. Das findet in Rojava statt. Diese Lage entwickelt sich im Mittleren Osten zunehmend. Wenn die Völker gemeinsam vorgehen, erzielen sie Ergebnisse. Der im Mittleren Osten andauernde Krieg formiert sich anhand dieses Grundsatzes.
In dieser Region, in Kurdistan, wehren sich die kurdischen Frauen gegen jede Form der Besatzung. Sie repräsentieren die neolithische Revolution mit neuen Methoden in der heutigen Zeit. Die Kurdinnen befreien alle Frauen. Und das wirkt sich auf die gesamte Menschheit aus, insbesondere auf die Frauen.
Wenn die kapitalistische Moderne neue Machtverhältnisse zu schaffen versucht, ohne den Willen der Völker einzubeziehen, werden die Völker dagegen Widerstand leisten. Die Völker der Region nehmen eine Versklavung nicht mehr hin.
Neue Errungenschaften durch Basisdemokratie
Die Völker und Kräfte der Region sollten sich nicht nur mit der Verteidigung begnügen. Die grundlegende Besonderheit des dritten Weltkriegs ist das allseitige Bemühen, die eigenen Interessen durchzusetzen. Alle wollen neue Gewinne machen. Die Bevölkerung und auch die revolutionären Kräfte müssen unter den Bedingungen des dritten Weltkriegs noch viel mehr arbeiten und kämpfen. Man darf sich nicht mit den bestehenden Errungenschaften begnügen. Es müssen neue hinzukommen, diese Einstellung sollte grundlegend sein. Für die Befreiung muss der Schwerpunkt noch stärker auf Basisdemokratie gelegt werden. Von den Dörfern bis zu den Städten, in allen lokalen Einheiten müssen demokratische Strukturen organisiert werden.
Der türkische Staat ist der Hauptfeind der Völker der Region und der demokratischen Kräfte. Das muss den Kurden und ebenso den anderen Völkern der Region klar sein. Sie müssen gemeinsam gegen diesen Feind, der für Besatzung und Genozid steht, kämpfen. Nur so können Ergebnisse erzielt werden. Der türkische Staat setzt seine Besatzungsversuche ermutigt und unterstützt von den regionalen und internationalen Kräften fort. Die Völker der Region müssen dagegen kämpfen, indem sie ihre Kräfte vereinen.
Bündnis zur Legitimierung der türkischen Besatzung
Wie ist die Politik der USA? Sie wollten in Syrien sowohl die Kurden als auch die Türkei für sich benutzen. Die USA haben die Türkei niemals aufgegeben, denn die Türkei ist ein Mitgliedstaat der NATO. Sie haben Beziehungen zu den Kurden aufgenommen, aber gleichzeitig die Beziehung zur Türkei fortgesetzt. Die USA wollten die Kurden und die Türkei im Rahmen ihrer Eigeninteressen an ihre Seite ziehen. Die Türkei hat das abgelehnt, denn sie ist den Kurden gegenüber feindlich gesinnt und will sie vernichten. Die USA haben sich bemüht, eine Beziehung zwischen der Türkei und den Kurden aufzubauen, um alle beiden Seiten in ihren Dienst zu stellen. Sie sind davon ausgegangen, dass sie damit zu Ergebnissen kommen. Als klar war, dass die Türkei das nicht akzeptiert, haben sie auf die Türkei gesetzt. Darin sahen sie mehr Profit, denn die Türkei ist ein NATO-Staat. Mit den Kurden haben sie eine taktische Beziehung gegen den IS aufgebaut. Als der IS besiegt war, haben sie ihre Beziehung mit der Türkei fortgesetzt und sind später ein Bündnis mit der Türkei eingegangen. In diesem Rahmen sollte eine ‚Sicherheitszone‘ eingerichtet werden. Die Kurden sollten das akzeptieren. Die Kurden haben jedoch abgelehnt. Und die USA haben der Türkei den Weg freigeräumt und sie in Rojava, in Nordsyrien einmarschieren lassen. Als es dagegen zunehmend Widerstand gab und die USA ihre Interessen gefährdet sahen, wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, haben sie ein weiteres Bündnis mit der Türkei geschlossen. Über dieses Bündnis sollte die türkische Besatzung legitimiert werden. Über die Türkei sollten die Kurden geschwächt und gänzlich von den USA abhängig gemacht werden. Mit der Türkei wollten die USA ihr Ziel in Syrien erreichen.
Türkei lässt sich von Russland und den USA benutzen
Später ist Russland auf den Plan getreten. Russland hat die Allianz zwischen den USA und der Türkei gesehen und daraufhin selbst ein Bündnis mit der Türkei geschlossen. Es hat gesehen, wie schwach die Türkei ist. Mit diesem Bündnis wollte Russland von der Türkei profitieren. Sowohl die USA als auch Russland haben die Kurden ihren eigenen Interessen geopfert und der Türkei den Weg freigeräumt. Die Türkei wird von ihnen gegen die Kurden benutzt. Sie haben erkannt, dass die Kurden der Schwachpunkt der Türkei sind. Der Umgang der USA und Russlands mit den Kurden ist derselbe. Es ist ein feindlicher Umgang, sie unterstützen die Türkei, um einen Genozid an den Kurden zu vollziehen. So sieht die Realität aus. Es gibt weder einen Waffenstillstand noch irgendwelche Lösungsbemühungen. Sie haben der Türkei für einen kurdischen Genozid den Weg freigemacht. Die Türkei kündigt den Genozid und die Ansiedlung von Dschihadisten in der Region ganz offen an. Sie will sich an den Kurden rächen, indem sie die Dschihadisten des durch den Kampf der Kurden angeschlagenen IS neu sammelt und Serêkaniyê [Ras al-Ain] und Girê Spî [Tall Abyad] angreifen lässt.
Niemand unterstützt die Invasion offen
In Syrien wird es nicht so einfach zu Stabilität und Frieden kommen, diese Erwartung sollte niemand haben. Die Türkei ist mit IS-Mentalität in Syrien einmarschiert. Die AKP ist der IS selbst. Die als ‚Syrische Nationalarmee‘ bezeichneten Kräfte setzen sich aus Dschihadisten, aus Islamisten des IS und al-Nusra zusammen. Diese Dschihadisten plündern, töten und tun alles, was schlecht ist.
Trotz der Legitimierung der türkischen Besatzung durch das Dreierbündnis Russland, Türkei und Iran wird die Situation nicht ewig so weitergehen. Es ist erkennbar, dass Syrien, der Iran und sogar Russland nicht damit zufrieden sind. Dass unter ihnen Probleme auftreten, ist durchaus möglich. Sogar bewaffnete Konflikte können daraus entstehen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch.
Die Türkei sagt, dass sie erfolgreich ist, und macht entsprechende Propaganda. Wie erfolgreich sie ist, ist nicht klar. Die Türkei ist in einen tiefen Schacht geraten. Sie wird für die Ziele der USA und Russlands benutzt. Auf der anderen Seite setzt die Türkei ihre Feindschaft den Kurden gegenüber fort, dafür benutzt sie den IS und ähnliche Gruppierungen. Sie begeht Verbrechen. Der Einmarsch in Nordsyrien ist völkerrechtswidrig, niemand unterstützt die Invasion offen. Selbst die Staaten, die den Einmarsch ermöglicht haben und Unterstützung leisten, können das ihrer Bevölkerung nicht erklären.
Die Türkei positioniert sich den Kurden gegenüber feindlich und steckt zwischen Russland und den USA in der Klemme. Wie sie aus dieser Situation herauskommen kann, ist unklar. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie stark angeschlagen daraus hervorgehen. Diese Möglichkeit ist sogar sehr wahrscheinlich.