Am 7. August erklärte der auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierte kurdische Vordenker Abdullah Öcalan im Rahmen einer Konsultation mit seinem Rechtsbeistand einmal mehr seine Bereitschaft, für Gespräche über eine politische Lösung der kurdischen Frage zur Verfügung zu stehen. Zwei Tage später wurde dem PKK-Gründer sowie den drei weiteren Inhaftierten auf Imrali von der Generalstaatsanwaltschaft Bursa ein dreimonatiges Besuchsverbot auferlegt. Dem Verteidigerteam der Imrali-Gefangenen wurde das Widerspruchsrecht zu diesem Beschluss verweigert. Seitdem blieben alle weiteren Besuchsanträge der Öcalan-Anwält*innen unbeantwortet.
Zehn Tage später reagierte die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan dirigierte Regierung diesmal mit der Absetzung der Ko-Oberbürgermeister*innen dreier kurdischer HDP-Hochburgen auf das von Öcalan dem türkischen Staat unterbreitete Friedensangebot. Zeitgleich wurden bei landesweiten Razzien hunderte HDP-Mitglieder und Aktivist*innen festgenommen, einige später sogar inhaftiert. Wir haben mit Cemil Bayik, dem Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei gesprochen. Bayik, einer der Mitbegründer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, äußerte zunächst, ohne einen konkreten Namen zu nennen: „Einige Personen glauben, dass sich das Problem lösen lässt, sobald Rêber Apo (gemeint ist Abdullah Öcalan, Anm. d. Red.) Kontakt zu seiner Außenwelt hat. Das ist leichtsinnig, wenn nicht sogar Selbstbetrug. Im Grunde bedeutet es nichts anderes, als sich selbst dem sicheren Tod zu überlassen. Andere Kreise wiederum sprechen immerzu vom Frieden und ihrem Einsatz für ihn. Wie kann es möglich sein, im Hinblick auf die Vernichtungspolitik, die gegen das kurdische Volk angewendet wird, lediglich von sich zu geben, dass man Frieden will? Dieser Vernichtungswillen, die Besatzung und der Faschismus werden nur gegenüber einem starken Widerstandswillen kapitulieren. Nur wenn sich der Kampf vergrößert, wird die Gegenseite Lösungen akzeptieren. Und nur dann, wenn aufgrund dieser Lösungen Ergebnisse erzielt werden, kann es Frieden geben. Solange in der Türkei die dem kurdischen Volk auferlegte Vernichtungspolitik anhält und die Macht derer, die diese Politik ausführen, nicht beendet wird - damit meine ich ausdrücklich den Sturz der AKP/MHP-Regierung -, wird es weder eine Lösung geben noch Frieden. Der Staat wird weiterhin Völkermorde begehen, eingreifen, töten, massakrieren, foltern und alles beseitigen, was im Namen der Kurden und Kurdistan geschieht. Dieser Realität muss sich jeder bewusst werden. Solange unser Volk der Gefahr eines Genozids ausgesetzt ist, wird der Krieg andauern. Dass die Regierung hin und wieder einen Besuch bei Rêber Apo genehmigt, sollte im Rahmen des Spezialkriegs bewertet werden.“
Absetzung der Bürgermeister als Reaktion auf Friedensangebot
Cemil Bayik erinnerte an die Suche Öcalans nach Wegen, den seit 35 Jahren in der Türkei andauernden Konflikt im Kontext der kurdischen Frage zu beenden und sein erneutes Angebot zur Eröffnung eines politischen Dialogs mit der Regierung: „Rêber Apo fordert eine Lösung des Problems und Frieden ein. Er sagte, dass die Lösung der kurdischen Frage im Rahmen von Verhandlungen im Interesse aller Menschen in der Türkei ist. Der Staat aber sagte: ‚Wir wollen keine Lösung, sondern die Vernichtung der kurdischen Existenz.‘ In der Praxis bedeutete das die Beschlagnahme der Rathäuser, breit angelegte Operationen gegen Politiker, unzählige Festnahmen und Verhaftungen und Offensiven gegen die Guerilla mit dem Ziel, sie gänzlich auszulöschen.
Der Staat verweigert dem kurdischen Volk seine Existenz. Er lehnt die politische Repräsentation der Kurden, ihren Willen, ihre Kultur, ihre Werte ab und schließt die Lösung der kurdischen Frage aus. Er will seine Macht auf der Nichtexistenz der Kurden verstetigen. Das ist die Realität des Staates. Er sieht die Vernichtung anderer Völker im Interesse des türkischen Volkes als Erfolg an. In der heutigen Welt gibt es außerhalb der Türkei niemanden, der eine solche Politik betreibt.“
An dieser Stelle des Interviews verweist Cemil Bayik auf „besondere Gesetze“, denen Kurdistan mit dem Ziel der „Besatzung“ und des „Völkermords“ unterliegt. Der KCK-Vorsitzende benennt eine Reihe von sogenannten „Reformen“, wie beispielsweise den Şark Islahat Planı nach dem Scheich-Said-Aufstand (kurdisch: Serhildana Şêx Seîdê Pîranî) im September 1925. Dieser Reformplan für die kurdischen Gebiete im Südosten des Landes brachte eine besondere Verwaltungsart mit einem Generalinspektor für die jeweilige Region mit. Kurdische Aristokraten und religiöse Führer wurden in andere Teile der Türkei deportiert. Zwei Jahre später wurde mit einem Gesetz für den Transfer bestimmter Personen der zu deportierende Personenkreis ausgeweitet.
Mit dem İskan Kanunu (Besiedlungsgesetz) wurde das Staatsgebiet 1934 in drei Zonen aufgeteilt:
1. Regionen, in denen Bevölkerung türkischer Kultur angesiedelt werden soll
2. Regionen, die für den Transport und die Ansiedlung jener Bevölkerung vorgesehen sind, die der türkischen Kultur angeglichen werden soll
3. Regionen, die unter anderem aus Gründen der Kultur, Politik, des Militärs und der Ordnung entvölkert werden sollen und in denen Ansiedlung und Wohnen verboten waren.
Die kurdisch-alevitische Provinz Dersim war das erste Gebiet, in dem das Gesetz zur Geltung kommen sollte. 1937/38 wurden 70.000 Bewohner*innen, die sich der staatlich angeordneten Türkisierungspolitik widersetzten, bei systematischen Massakern getötet.
„Aber auch der räumlich begrenzte Belagerungszustand (Örfi Idare), der Ausnahmezustand und die Zwangsverwaltung reihen sich in die Kette dieser besonderen Gesetze ein. Die Ernennung von Treuhändern beispielsweise haben ebenfalls keine rechtliche Grundlage – eine ethische und menschliche erst recht nicht. Es wird streng nach den Gesetzen des Völkermords gehandelt. Aus diesem Grund gibt es in allen Reihen Widerstand dagegen. Das ist eine positive Entwicklung, da es das erste Mal in der Türkei dazu kommt, dass sich türkische Politiker, Sozialisten, Demokraten, Liberale, Intellektuelle und Autoren gegen diese Politik zur Wehr setzen. Diese Tatsache verdeutlicht, dass den Menschen langsam aber sicher begreiflich wird, welche Politik der türkische Staat den Völkern – insbesondere dem kurdischen Volk – auferlegt wird“, so Bayik.
Der KCK-Vorsitzende kritisiert allerdings die überschaubaren Proteste gegen die Absetzung dreier HDP-Bürgermeister*innen und fordert eine Ausweitung auf alle kurdischen und türkischen Städte. Die Ablehnung der Zwangsverwaltung sollte in jeder Straße des Landes zu spüren sein.
Staat will mit Krieg einschüchtern
„Die AKP/MHP-Regierung stirbt von Tag zu Tag politisch aus. Auch immer mehr Stimmen aus der türkischen Öffentlichkeit stellen sich ganz klar gegen ihre Politik – eine Vielzahl von Personen innerhalb der AKP miteingeschlossen. Ehemalige Weggefährten Erdoğans gründen nun ihre eigene Partei. Der AKP/MHP-Block hat allerdings schon bei der Kommunalwahl an Stärke verloren. Er hatte vor, weiterzumachen wie bisher. Mit Repression, Folter, Haftstrafen, Tod und Krieg soll jeder eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht und der Gründung neuer Parteien entgegengewirkt werden. Bei ihren Taktikten setzt die Regierung ganz besonders auf ihr Kriegspferd, ansonsten hätte sie keine Chance, zu überleben. Spätestens nach den letzten Wahlen wurde klar, dass diese Regierung nicht freiwillig gehen wird. Nur der Widerstand wird sie zur Kapitulation zwingen.
Zugeständnisse sind kein Hindernis für Regierung
Diese Regierung agiert nicht nur gegen das Volk in Nordkurdistan und gegen die PKK; sie führt auch Krieg im Süden (Nordirak), Osten (Iran) und in Rojava. Zwar ist es hinsichtlich Rojava zu einer Einigung mit den USA gekommen, aber die Türkei gibt sich damit nicht mehr zufrieden und will die Besatzung durchsetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird einerseits Europa mit einem neuen Flüchtlingszustrom erpresst. Auf der anderen Seite droht die türkische Regierung den USA mit einem Einmarsch in Rojava, weil ihr die Einrichtung der sogenannten Sicherheitszone zu lange dauert. Das sind nur Vorwände, im Grunde geht es um eine dauerhafte Besatzung. Unser Volk und Syrien müssen verstehen; irgendwelche Zugeständnisse stellen kein Hindernis für den türkischen Staat dar. Nur der Widerstand wird die Türkei stoppen können.
Von Efrîn bis Kerkûk sollen die kurdischen Regionen, die sich in der Vergangenheit innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reichs befanden, okkupiert werden. Erdoğan hat diese Absicht schon mehrfach geäußert. Sowohl die Kurden als auch die anderen Völker Nordsyriens müssen sich auf eine türkische Invasion vorbereiten.
Zwar wäre die Türkei ohne die Unterstützung der USA und Russlands aufgeschmissen, beide Länder benutzen den türkischen Staat allerdings für ihre eigenen Interessen. Es ist gut möglich, dass die Türkei im Gegenzug für Idlib etwas für Nordsyrien herausholen will. Wenn sich die Völker dem entgegenstellen, wird der türkische Staat kapitulieren und sich auch nicht mehr länger in Efrîn, Azaz, Dscharablus und al-Bab halten können.
Südkurdistan soll ebenfalls besetzt werden
Doch auch den Süden wollen diese faschistischen und rassenfanatischen Besatzer annektieren. Die Guerilla der PKK steht ihnen allerdings im Weg, deshalb werden die Medya-Verteidigungsgebiete angegriffen. Die südkurdischen Parteien beziehen dagegen leider keine Position und hüllen sich stattdessen in Schweigen. Mit einer Politik, die sich der Invasion eines fremden Staates nicht entgegenstellt, machen sich diese Parteien zum Handlanger eines kurdischen Völkermords. Ich hoffe, sie erkennen das und geben diese Politik auf.
Das Volk Südkurdistans ist ein kämpferisches Volk, dass sich jahrelang Saddam Hussein widersetzte. Viele starben und wurden Gefallene, andere verloren ihre Dörfer, die verbrannt und zerstört wurden. Dennoch gaben diese Menschen ihre Heimat und ihren Kampf nicht auf. Sie haben sich stets gegen Völkermord und Besatzung ausgesprochen. So wie sie damals Widerstand gegen eine Invasion des Iraks leisteten, sollten sie sich heute am Kampf gegen eine türkische Invasion stellen.“
Was hat die HDP mit der PKK zu tun?
Cemil Bayik äußerte sich außerdem zu den staatlich inszenierten Protesten vor der HDP-Zentrale in Amed. Die teilnehmenden Familien behaupten, ihre Kinder seien gewaltsam zur kurdischen Guerilla in die Berge gebracht worden. Der KCK-Vorsitzende erklärt dazu: „Diese Familien werden vom Duo um Erdoğan und Bahçeli sowie dem MIT und der Polizei als Werkzeug gegen die kurdische Politik missbraucht. Was hat die HDP mit der PKK zu tun? Nichts. Die Kämpferinnen und Kämpfer, die der PKK beitreten, schließen sich freiwillig unseren Reihen an. Sie tun dies für ihre Heimat, ihr Volk, ihre Würde und ihre Freiheit.
Nicht zur HDP, sondern zur PKK
Falls diese Familien ein Anliegen haben, sollten sie sich an die PKK und die Guerilla wenden. Die HDP ist der falsche Ansprechpartner. Der türkische Staat versucht mit dieser Nummer, von der Tagesordnung abzulenken. Es geht darum, das Unrecht den Kurden gegenüber an die Wand zu spielen, den Widerstand dagegen zu brechen und einen Keil zwischen die Kurden und die Demokratiekräfte der Türkei zu treiben. Für die finale Umsetzung des kurdischen Genozids wird ein Spezialkrieg geführt. Einige Familien machen sich zum Handlanger dieser schmutzigen Inszenierung. Der Staat verfolgt das Ziel, seine Politik gegenüber den Kurden, der PKK, Rêber Apo und der Guerilla zu legitimieren. Das kurdische Volk soll allein dastehen und gleichzeitig voneinander isoliert werden. Die Familien vor der HDP-Zentrale sollten Abstand von diesen Protesten nehmen und sich nicht an der Vernichtung des kurdischen Volkes beteiligen. Andernfalls treten sie ihre eigene Würde mit Füßen.
Die Guerilla ist Garant für Existenz der Kurden
Eins sollte sich jeder vor Augen führen: Nur ein vielfältiger Widerstand gegen den Faschismus, die Politik der Besatzung und des Völkermords wird die Kurden vor dem sicheren Tod bewahren. Die Guerilla als ein Garant zeigt diesen Mut und Entschlossenheit und kämpft selbstlos für die Existenz des kurdischen Volkes. Sie nimmt Verluste in Kauf, versetzt den faschistischen Besatzern dennoch schwere Schläge. Der türkische Staat aber verheimlicht seine Verluste, da er gegenüber dem Guerillawiderstand einbricht. Deshalb zolle ich der Guerilla meinen Respekt. Sie leistet diesen historischen Widerstand nicht nur für das kurdische Volk, sondern alle Völker im Mittleren Osten. Unter diesem Aspekt sollte sich jeder der Guerilla verbunden fühlen. Die Stärkung der Guerilla ist die Stärkung des freien Willens, der Freiheit, Identität, Kultur und der Gesellschaft. Es ist die Zukunft der Kurden.“