Seit einigen Tagen sitzen Eltern vor der Zentrale der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Amed (Diyarbakir) und behaupten, ihre Kinder seien von der HDP gewaltsam zur kurdischen Guerilla in die Berge gebracht worden. Murat Karayilan, Mitglied im Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans PKK (Partiya Karkerên Kurdistan) und Oberkommandierender des Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte HPG (Hêzên Parastina Gel), hat sich im Interview mit Arjîn Ferat zu diesen inszenierten Protestaktionen geäußert und sie als Teil einer Kampagne gegen die Errungenschaften des kurdischen Volkes bewertet. Wir geben hier übersetzte Auszüge aus dem Gespräch wieder.
„In der letzten Zeit werden die kurdischen Errungenschaften – seien es legale Aktivitäten der Kurden und ihrer Organisationen in Europa oder in der Türkei, die HDP, demokratische Kräfte, die sich für die Lösung der kurdischen Frage einsetzen, die Kräfte der Revolution von Rojava oder die ezidischen Widerstandskämpfer in Şengal; sie alle werden mit einem PKK-Etikett versehen und zur Zielscheibe erklärt. Mit einer vielseitigen Inszenierung, die ausschließlich auf Lügen basiert, soll eine Wahrnehmung erzeugt werden, die zu irrationalen Urteilen führt.
Die PKK ist ein eigenständiges Phänomen, es existiert keine Verbindung zwischen ihr und der HDP. Der Befreiungskampf des kurdischen Volkes und der Kampf für Demokratie der Völker in der Türkei haben sich gemeinsam mit zahlreichen Organisationen, Parteien und Privatpersonen unter dem Dach des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK) vereint. Aus diesem Bündnis ging die HDP hervor. Mit der Behauptung, die HDP stehe automatisch für die PKK, verdreht man nichts weiter als die Tatsachen. Es handelt sich um eine große Lüge, mit der die Basis der Völkermordspolitik gefestigt werden soll, um die HDP zu unterdrücken und sie zum Ziel von Angriffen zu erklären. Es ist schon grotesk, dass Recep Tayyip Erdoğan als Staatschef und Präsident der Türkei, dem Geheimdienst, Armee und Polizei unterliegen, die Behauptung in den Raum wirft, die HDP würde kommunale Gelder an die PKK weiterleiten, ohne einen einzigen Beweis dafür vorzulegen. Als Staatspräsident hat er doch alle Möglichkeiten, Beweise zu liefern. Da aber ein Nachweis darüber, dass auch nur eine einzige Lira aus öffentlichen Geldern in unserer Kasse gelandet ist, nicht existiert, sieht es so aus, als wäre Erdoğan nichts weiter als der größte Lügner und Verleumder in der Türkei.
Niemand wird entführt, um bei der Guerilla zu landen
Die Teilnahme in unseren Reihen ist selbstgewählt. Der Diskurs über „Entführungen“ wird primär vom türkischen Kolonialismus und dem Spezialkrieg getragen. Wir sind eine ideologische Bewegung, die auf freiwilliger Teilnahme beruht. Wir halten niemanden gegen seinen Willen fest. Jedes Mitglied, ob Kurde oder Angehöriger einer anderen Nation, hat sich unserer Bewegung nach eigenem Belieben angeschlossen. Dieser Staat hat gegen seine eigenen Gesetze verstoßen und die Ko-Oberbürgermeister von drei Großstädten abgesetzt. Wir nennen es einen Putsch gegen den politischen Willen des kurdischen Volkes. In Kurdistan, der Türkei, ja sogar auf der gesamten Welt hat es Reaktionen dagegen gegeben. Die AKP hat jedoch Schwierigkeiten, ihre rassenfanatische Politik aufrechtzuerhalten und bedient sich daher solchen Inszenierungen. Irgendjemand musste sich eben vor die HDP-Zentrale setzen, damit das Unrecht dieser Partei gegenüber an die Wand gespielt werden kann.
HDP ist der falsche Ort
Es mag sein, dass einige dieser Mütter in guter Absicht sind, andere sind es wiederum nicht. Eins ist jedoch klar, bei dem Sitzstreik vor der HDP-Zentrale handelt es sich um eine Machenschaft der AKP, des MIT und der Polizei. Es ist eine Spezialkriegsmethode, ein schmutziges Szenario, dem sich die Menschen dort bewusst werden und entziehen sollten. Wenn sie wirklich auf der Suche nach ihren Angehörigen sind, ist die HDP der falsche Ort.
Es liegt nicht in der Macht der HDP uns aufzufordern, Person X nach Hause zu schicken. Wir lassen uns nicht von anderen auftragen, was mit unseren Militanten geschehen soll. Ich kann ganz klar sagen: Diese Familien können auch die nächsten zehn Jahre vor der HDP-Zentrale verweilen, zurückkommen wird deshalb niemand. Dieser Staat gibt Millionen von Lira aus, um auch nur einen einzigen unserer Militanten zu töten. Stundenlang kreisen Dutzende Flugzeuge in der Luft, um einen unserer Freunde zu treffen. Jetzt soll mit so einem schmutzigen Szenario wie es in Amed der Fall ist erreicht werden, dass unsere Militanten heimkehren? Jemand, der sich dem kurdischen Befreiungskampf angeschlossen hat, ist Kämpfer seines Volkes. Es ist eine Ehre und eine Auszeichnung. Eine Person, die das Bewusstsein eines Freiheitskämpfers erlangt hat, wird auf Aufrufe wie diese keinen Wert legen. Weder für Geld, noch für etwas anderes.
Bringt eure Kinder nicht in Verlegenheit
Aus der Presse haben wir erfahren, dass ein politischer Gefangener (im Gefängnis von Bolu, Anm. d. Red.) einen Selbstmordversuch unternommen hat, als er seine Mutter in den Medien bei der Protestaktion sah. Allem Anschein nach sitzt der Gefangene Mecnun Akkoyun wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft im Gefängnis. Weshalb hat er also versucht, sein Leben zu beenden? Er muss bedauert haben, dass seine Mutter in solch eine Situation geraten ist. Die Menschen vor der HDP-Zentrale sollten sich von Dingen fernhalten, die ihre Kinder in Verlegenheit bringen. Es entspricht nicht dem Ideal einer Militantenmutter, als Mittel des Spezialkriegs zu dienen. Wenn die Mütter etwas für ihre Kinder tun wollen, ist der Weg, den sie eingeschlagen haben, der falsche.
Schaut euch die Samstagsmütter an
Schauen Sie, seit fast 25 Jahren gibt es in Istanbul die Initiative der Samstagsmütter, deren Kinder und Angehörige vom Staat verschleppt und getötet wurden. Wenn wir von Entführungen sprechen wollen, dann doch in diesem Zusammenhang. Seit einem Vierteljahrhundert machen diese Mütter jeden Samstag das Verschwindenlassen ihrer Angehörigen mit entsprechenden Beweisen öffentlich. Und was bitte hat das AKP/MHP-Regime getan? Es hat den gerechtfertigsten aller Proteste verboten und die Samstagsmütter gewaltsam von ihrem angestammten Kundgebungsort, dem Galatasaray-Platz, vertrieben. Jetzt setzen sie ihre Aktion vor dem Menschenrechtsverein IHD fort. Weshalb sieht das die türkische Presse nicht? Warum spricht Erdoğan nicht vom Schmerz dieser Mütter? Weshalb nehmen die Spezialkriegsmedien die Menschen vor der HDP-Zentrale nicht von ihrer Tagesordnung? Diese Fakten sagen doch schon viel über die Realität aus. Der türkische Staat ist heuchlerisch und misst mit zweierlei Maß. Er will das kurdische Volk unterwerfen und einen Genozid verüben. Es wird nur denjenigen das Recht auf Leben eingeräumt, die im Dienst dieses Staates stehen. Das macht den Charakter des türkischen Staates aus. Den Müttern vor dem Gebäude der HDP sollte so langsam klar werden, dass sie mit ihrer Aktion nichts erreichen können. Sie werden keine Ergebnisse erzielen.
Absetzung von Ahmet Türk sollte jedem zu denken geben
Ahmet Türk, einer der abgesetzten Bürgermeister, ist seit 50 Jahren aktiv in der Politik und bekannt für seinen unermüdlichen Einsatz für Demokratie und Frieden. Seit Jahren spricht er sich für einen dauerhaften Frieden aus und fördert die Einheit des kurdischen und türkischen Volkes. Wenn der türkische Staat noch nicht einmal die Existenz von Ahmet Türk anerkennt, wird er niemanden akzeptieren. Dass jemand wie Ahmet Türk seines Amtes enthoben und der Möglichkeit beraubt wird, sich politisch zu betätigen, sollte jedem Kurden zu denken geben.
In einer Zeit, in der die HDP in einem besonders umfangreichen Ausmaß angegriffen wird, finden wir es nicht angebracht, Kritik an ihr auszuüben. Ginge es dem Staat darum, lediglich die PKK zu vernichten, hätte die legale Politik freie Bahn. Bei diesem Angriff handelt es sich allerdings um einen umfassenden Angriff mit dem Ziel, die HDP zu zerschlagen. Deshalb haben wir unsere Kritik erstmal ad acta gelegt. Blicken wir aber ein wenig zurück: Möglicherweise wäre es nicht soweit gekommen, hätte sich die HDP rechtzeitig ihren Aufgaben gewidmet. Unzählige Parteiverantwortliche sitzen im Gefängnis. Aktuell wird die HDP wieder beschuldigt, die sogenannte Schützengraben-Politik (in Anlehnung an die Schützengräben in den nordkurdischen Städten nach Proklamation der Selbstverwaltung im Jahr 2015 und der darauffolgenden Militärbelagerung, Anm. d. Red.) unterstützt zu haben. Das ist nicht richtig, die HDP hat diese Phase nicht befürwortet. Im Gegenteil, die HDP zögerte und brachte die Menschen in ein Dilemma. Infolgedessen war das Volk verwirrt. Viele jungen Menschen blieben im Angesicht des Feindes allein. Şehîd Çiyager Hêvî und 60 seiner Leute beispielsweise, die mitten in Amed in Sûr im Stich gelassen wurden.
Nun, da der Staat eine Legitimation für die Absetzung der Bürgermeister benötigt, greift er wieder auf seine altbekannte Behauptung zurück, dass die HDP nach hier und dort Waffen transportiert und die Schützengraben-Politik unterstützt habe. Das ist nicht richtig, die HDP hat ganz klar gegenteilig gehandelt. Vielleicht möchte die Parteibasis mal darüber nachdenken. Hätte sie die wahre Absicht hinter den damaligen Angriffen des völkermörderischen Kolonialstaates richtig gedeutet und die Jugend nicht ihrem Schicksal überlassen, wären wir heute möglicherweise nicht an diesem Punkt. Jeder sollte aus dieser Situation etwas lernen. Man kann diesen Staat noch so brennend anflehen und Frieden einfordern, er wird es nicht verstehen. Stattdessen sollten wir die Einheit und Organisierung unseres Volkes weiter voranbringen und den Widerstand als Grundlage für einen Volksaufstand wählen. Die HDP sollte bei Gelegenheit darüber intensiv nachdenken.“