Eine Vielzahl von Minderheiten in Syrien – wie die kurdische, die alawitische, drusische, ismailitische und christliche – müssen sich organisieren, um ihre Existenz zu schützen und ihre Rechte sowie Teilhabe in den aktuellen Entwicklungen unter der neuen Übergangsregierung und deren vielfach kritisierten neuen Verfassung zu sichern. In zwei Artikeln werden jeweils die Vergangenheit und Gegenwart der drusischen und alawitischen Gemeinschaften in Syrien beleuchtet. Dies ist der zweite Teil.
Die Alawit:innen gehören dem Zwölferzweig des schiitischen Islam an
Das soziale Gefüge Syriens besteht aus einer muslimischen Mehrheit. Etwa 85 Prozent der Bevölkerung sind sunnitisch-muslimisch, daneben gibt es Alawit:innen, schiitische Muslim:innen, Drus:innen und Ismailit:innen.
Die auch als Nusairier:innen bekannte Glaubensgemeinschaft der Alawit:innen gehört dem Zwölferzweig des schiitischen Islam an. Es wird angenommen, dass dieses Glaubenssystem während der Zeit des elften Imams, Hasan al-Askari, entstanden ist. Nach dem Tod von Imam al-Askari (gest. 873) entwickelte sich durch die Lehren von Ibn Nusayr und seinen Anhänger:innen eine neue religiöse Strömung. Sie entstand als ein Zweig des schiitischen Islams im Irak, breitete sich später aus und schlug Wurzeln in Syrien, damals als Levante bekannt.
Ungeklärte ethnische Abstammung
Wie bei der drusischen Gemeinschaft beruhen die ethnischen Ursprünge der Alawit:innen auf abstrakten und nicht überprüfbaren Quellen, und es gibt keine definitiven Aufzeichnungen. Einige alawitische Quellen behaupten, sie stammten von Siedler:innen ab, die im 13. Jahrhundert aus der Region des Berges Şengal (Sindschar, Nordirak) kamen.
Entwicklung des Glaubenssystems
Jeder der alawitischen Führer, die Ibn Nusayr folgten, trug neue Regeln und Rituale zum Glaubenssystem bei und formte es allmählich zu seiner heutigen Form. Die Figur, die den Nusairismus am stärksten organisierte und reformierte, war al-Hasibi. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff „Nusairier“ immer seltener verwendet und nach und nach durch den Begriff „Alawit:innen“ ersetzt.
Nachdem Syrien unter französisches Mandat gestellt worden war, bezeichnete sich die Gemeinschaft immer häufiger als alawitisch. Auch einige alawitische Intellektuelle entschieden sich, diese Identität anzunehmen. Manche behaupten sogar, dass der Begriff „Nusairier“ im Laufe der Zeit eine abfällige und erniedrigende Konnotation erhielt.
Durch Nationalstaaten zersplitterte Geographie
Es gibt keine definitiven Daten über die Gesamtbevölkerung der Alawit:innen, da Volkszählungen nicht nach konfessioneller Zugehörigkeit durchgeführt werden. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass der Anteil der alawitischen Bevölkerung etwa drei bis 3,5 Millionen beträgt. In der zersplitterten Geographie der modernen Nationalstaaten machen die Alawit:innen etwa zehn bis zwölf Prozent der syrischen Bevölkerung aus (fast drei Millionen Menschen). Sie leben vor allem in Latakia, Tartus, den ländlichen Gebieten von Hama und Homs, dem westlichen Teil von Idlib und in weitaus geringerem Maße in Damaskus und Aleppo.
In der Türkei leben schätzungsweise zwischen 400.000 und 500.000 Alawit:innen in der Region Hatay, insbesondere in Samandağ, Arsuz und Altınözü, sowie in geringerer Zahl in Städten wie Adana und Mersin. Auch im Nordlibanon und in Teilen Jordaniens soll es sehr kleine alawitische Gemeinschaften geben. Bei diesen Zahlen handelt es sich um Schätzungen aus der Zeit vor dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs.
Verborgene Weitergabe der Glaubenslehre
Die Alawit:innen weichen erheblich vom klassischen schiitischen Islam ab. Sie betrachten Ali als ein göttliches Wesen. Ihr Glaube ist stark von mystischen (Sufi-)Elementen geprägt. Die Weitergabe von religiösem Wissen innerhalb der Gemeinschaft ist begrenzt, und es herrscht der Glaube vor, dass es esoterische Lehren gibt, die im Verborgenen gehalten werden, so dass die Einzelheiten des Glaubens für Außenstehende weitgehend unbekannt und verschlossen sind.
Die islamischen Traditionen werden zwar eingehalten, aber auf unterschiedliche Weise praktiziert. Rituale wie Gebet und Fasten werden nach eigenen Auslegungen durchgeführt. Der Glaube an die Reinkarnation (Seelenwanderung) hat in der arabisch-alawitischen Spiritualität eine besondere Bedeutung.
Geschlossene Gemeinschaftsstruktur
Einer der bestimmenden Aspekte ihres gesellschaftlichen Lebens ist ihre geschlossene Gemeinschaftsstruktur. Eheschließungen finden in der Regel innerhalb der Gemeinschaft statt. Frauen genießen im Vergleich zu vielen umliegenden Gemeinschaften relativ große Freiheiten. Ihre religiösen Führer, die unter Titeln wie Dede oder Scheich bekannt sind, nehmen eine angesehene Stellung in der Gesellschaft ein und sind für die Weitergabe der religiösen Lehren verantwortlich.
Die Heilige alawitische Triade
Den Kern ihres Glaubenssystems bildet eine heilige Triade, die als „Ana Inanç“ (Hauptglaube) bekannt ist und aus Mana (Bedeutung), Isim (Name) und Bab (Tor) besteht. Sie glauben, dass sich das Göttliche durch diese triadische Struktur offenbart. Mana steht für Ali, Isim entspricht Muhammad und Bab wird durch Salman al-Farsi symbolisiert.
Lange Unterdrückungsgeschichte
Seit seiner Entstehung im 9. Jahrhundert konnte sich der alawitische Glaube nie in Ruhe entfalten und wurde ständig unter Druck gesetzt. Er hat sich in vielerlei Hinsicht vom klassischen schiitischen Islam entfernt und wurde deshalb oft an den Rand gedrängt. Die Alawit:innen haben meist in Bergregionen gelebt, oft in ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinschaften. Im Laufe der Geschichte haben sie selten die Anerkennung oder Unterstützung erhalten, die sie verdient hätten. Aufgrund ihres Glaubens lebten sie als verfolgte Minderheit unter ständigem Druck.
Unter osmanischer Herrschaft wurden die Alawit:innen ausgegrenzt, unterdrückt und waren systematischer Ungerechtigkeit ausgesetzt. Sie hatten keine wirklichen Möglichkeiten, außer Soldaten zu stellen und Steuern zu zahlen. Selbst ihre Gottesdienste mussten im Geheimen abgehalten werden. Der Glaube zeichnet sich durch seinen esoterischen Charakter aus, der dem, was unter der Oberfläche liegt, Wahrheiten, Geheimnisse und verborgene Wirklichkeiten, tiefe symbolische Bedeutungen zuweist.
Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und während der französischen Mandatszeit in Syrien wurden die Alawit:innen nur begrenzt anerkannt. Während für andere Minderheitengruppen in Syrien die Gründung von Staaten geplant war, wurde die alawitische Gemeinschaft von diesen Bestimmungen ausgeschlossen. Zumindest auf dem Papier wurden die von ihr bewohnten Gebiete jedoch offiziell als „alawitische Gebiete“ anerkannt.
Hafez al-Assad als alawitischer Machthaber Syriens
Ihr Schicksal hat sich unter dem Baath-Regime nicht wesentlich verbessert. Als Hafez al-Assad, selbst Alawit, durch den Militärputsch von 1970 an die Macht kam, blieb die historische Marginalisierung der Alawit:innen weitgehend unverändert.
Die Baath-Partei(en)
Um Verwechslungen zwischen den beiden Zweigen der Baath-Partei zu vermeiden, ist es sinnvoll, die Unterscheidung kurz zu erläutern. Die Baath-Partei, die ursprünglich in Syrien gegründet wurde, gründete später einen Zweig im Irak. Obwohl sie ursprünglich eine einzige Partei war, führten interne Widersprüche zu einer Spaltung. Der irakische Zweig entwickelte sich schließlich zu einer separaten Baath-Partei, die häufig unter der Kontrolle der sunnitischen Führung agierte.
Ironischerweise verwandelte sich das, was als einheitliche politische Bewegung begann, in zwei einander feindlich gegenüberstehende Parteien. Im Irak wurde die Baath-Partei zu einem Vehikel für eine sunnitische Minderheit, die über eine schiitische Mehrheit herrschte, während sie in Syrien zu einer alawitisch geführten Partei wurde, die eine sunnitische Mehrheit regierte. Die beiden Staaten beschuldigten sich schließlich gegenseitig des Verrats und der Abweichung von den Prinzipien der Baath-Partei.
Anti-alawitische Stimmung
Als Hafez al-Assad den syrischen Zweig der Baath-Partei übernahm, kam es zu heftigen Reaktionen der sunnitischen Bevölkerung, die zu schweren Protesten führten. Damals sah die syrische Verfassung vor, dass nur ein sunnitischer Muslim das Amt des Präsidenten bekleiden konnte. Um die öffentliche Empörung zu besänftigen und gleichzeitig seine Macht zu erhalten, erschien Hafez al-Assad mit dem Großmufti von Damaskus und betete in der Umayyaden-Moschee, wobei er sich öffentlich als Sunnit bezeichnete.
Dies war einer der ersten Momente, in denen sich in sunnitischen Kreisen eine anti-alawitische Stimmung herauszubilden begann. Wie die heutigen Massaker an Alawit:innen zeigen, lassen sich die Wurzeln dieser Gewalt aber nicht allein auf das Assad-Regime zurückführen, sondern es gab sie schon lange vorher.
Das Assad-Regime: eine von einem Alawiten geführte sunnitische Regierung
In der von Hafez al-Assad eingesetzten Regierung wurde die Mehrheit der Ministerposten an sunnitische Beamte vergeben. Obwohl er als Alawit geboren wurde, änderte Assad offiziell seine Religionszugehörigkeit und bildete ein Kabinett, das fast ausschließlich aus Sunniten bestand. Anstatt die alawitische Gemeinschaft zu fördern, beschränkten sich Macht und Privilegien auf Assads engsten Familienkreis und die Familie seiner Frau, wodurch nur diese zwei Familien von den Ressourcen des Staates profitierten. Diese Personen hatten in der Regel Schlüsselpositionen im Militär- und Geheimdienstapparat inne.
Obwohl Hafez al-Assad mit Unterstützung der Alawit:innen an die Macht kam, hat sich ihre allgemeine Lage unter seiner Herrschaft nicht wesentlich verbessert. Auch in dieser Hinsicht gibt es ein weit verbreitetes Missverständnis. Die Vorstellung, das Assad-Regime sei „alawitischer“ Natur gewesen, ist irreführend. In Wahrheit war das Assad-Regime eine sunnitische Regierung, die von einem Alawiten geführt wurde. Als solche blieben die Alawit:innen auch während seiner Herrschaft eine marginalisierte und vernachlässigte Gemeinschaft. Sie waren weitgehend auf abgelegene ländliche Gebiete mit wenig Infrastruktur oder öffentlichen Dienstleistungen beschränkt.
Mit seinem Militärputsch von 1970 brachte Hafez al-Assad die Minderheiten, die ihn unterstützt hatten, unter strenge Kontrolle. Die Alawit:innen, Drus:innen, Ismailit:innen und christlichen Minderheiten gehörten zu Assads wichtigster Unterstützung. Alle diese Gemeinschaften wurden jedoch letztlich von der realen Macht ausgeschlossen, überwacht und verschiedenen Formen der Unterdrückung unterworfen.
Politische Begründung der Gewalt ist grobe Verzerrung
Die alawitische Gemeinschaft in Syrien ist aufgrund ihres Glaubens auch dem Druck der sunnitischen Mehrheit ausgesetzt. Sie wurde als religiös illegitim angesehen und als solche angegriffen. Die sunnitische Gegenreaktion gegen Assad nahm häufig die Form von Feindseligkeit gegenüber Alawit:innen an, nicht wegen politischer Aktionen, sondern wegen religiöser Unterschiede. Die Darstellung von Alawit:innen als Unterstützende von Assad und die Rechtfertigung von Gewalt gegen sie mit dieser Begründung ist eine grobe Verzerrung. Den Angriffen, die einem Völkermord gleichkommen, liegt ein tief sitzender konfessioneller Hass zugrunde.
Ständige Unterdrückung als Minderheit
Eine ernsthafte soziologische Untersuchung der alawitischen Gemeinschaft zeigt, dass ihr historisches Schicksal seit der Entstehung des Nusairi-Glaubens im 9. Jahrhundert weitgehend unverändert geblieben ist. Obwohl sie ursprünglich eine Abspaltung vom schiitischen Islam waren, wurden sie später auch von der klassischen schiitischen Doktrin exkommuniziert. Als Minderheit in jeder Region, in der sie lebten, waren sie ständig Verfolgungen ausgesetzt.
Unter der Kontrolle externer Mächte waren sie nie in der Lage, eine nennenswerte Präsenz oder Autonomie aufzubauen. Daran hat sich auch unter dem Assad-Regime, das oft fälschlicherweise als alawitische Regierung bezeichnet wird, nichts geändert. Tatsächlich hat sich die Situation unter Baschar al-Assad im Vergleich zur Herrschaft seines Vaters weiter verschlechtert.
Massaker sind Ergebnis tief verwurzelter Feindseligkeit
Mit dem Machtwechsel in Syrien wurde salafistisch-takfiritisch-dschihadistischen Kräften, die den Alawit:innen (als „Rafida“ bezeichnet) feindselig gegenüberstehen, Tür und Tor geöffnet, um Massenmorde und Ausrottungskampagnen zu veranstalten. Diese Massaker an der alawitischen Gemeinschaft sind weniger ein Produkt des Assad-Regimes als vielmehr das Ergebnis einer tief verwurzelten sunnitischen Feindseligkeit gegenüber schiitischen Gemeinschaften.
Die Alawit:innen, deren Siedlungsgebiete sich weitgehend auf den syrischen Küstenstreifen beschränken, sind aufgrund ihrer relativ begrenzten Organisationsstrukturen stärker gefährdet als andere Gemeinschaften. Berichten zufolge ist die Zahl der bei Angriffen von „Hayat Tahrir al-Sham“ (HTS) getöteten Alawit:innen auf rund 50.000 gestiegen. Diese Zahl ist vergleichbar mit der Zahl der Palästinenser:innen, die bei den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen getötet wurden, allerdings in einem viel kürzeren Zeitraum. Nachrichtenquellen berichten außerdem, dass fast 100.000 Alawit:innen im Libanon Zuflucht gefunden haben.
Derzeitige HTS-Verwaltung ernsthafte Bedrohung für Minderheiten
Abschließend muss klar gesagt werden, dass die derzeitige HTS-Verwaltung in Syrien eine ernste Bedrohung für die Rechte von Minderheiten und die Religionsfreiheit darstellt. HTS ist eine Fortsetzung der Struktur des selbsternannten Islamischen Staates (IS). Unabhängig davon, unter welchem Namen operiert wird, sind Struktur, Mentalität und Praktiken mit denen des IS identisch.
Diese Warnung gilt auch für die Kurd:innen, die als die am besten organisierte Gemeinschaft in Syrien gelten. Die Bedrohung bleibt konstant. Für alle ethnischen und religiösen Minderheiten in Syrien ist die Gefahr unter der Herrschaft von HTS unvermeidlich. Um dieser Bedrohung zu begegnen, müssen sie sich untereinander organisieren und dafür kämpfen, dass sie das Recht erhalten, die Zukunft Syriens mitzugestalten.
Aufbau von Organisations- und Selbstverteidigungsstrukturen
Große Bevölkerungsgruppen wie Kurd:innen, Alawit:innen, Drus:innen, Ismailit:innen und Christ:innen müssen unbedingt von innen heraus Organisationsstrukturen aufbauen, sich mit legitimen Mitteln verteidigen und dafür sorgen, dass ihre Rechte im Rahmen einer neuen Verfassung geschützt werden, in der sie sich äußern und an Entscheidungsprozessen teilnehmen können.
Mit Blick auf die Zukunft Syriens scheinen Instabilität und Konflikte drohender denn je. Es ist von entscheidender Bedeutung, jetzt auf die chaotischen Entwicklungen vorbereitet zu sein, die vor uns liegen, und dabei sowohl die interne als auch die externe Dynamik zu berücksichtigen.
Foto: Hızır-Mausoleum (Khidr) in Samandağ / Hatay, 2011 CC BY-SA 3.0 via Wikimedia