Vergangenen Oktober wurde der selbsternannte „IS-Kalif” Abu Bakr al-Baghdadi in der türkischen Besatzungszone der nordsyrischen Stadt Idlib bei einer gemeinsamen Operation der USA und den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) getötet. Lange wurde gerätselt, wer sein Nachfolger ist. Zwar war schnell ein gewisser Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi als neuer Anführer der Terrormiliz präsentiert worden, seine wahre Identität wurde allerdings erst kürzlich enttarnt: der neue IS-Chef Amir Mohammed Abdul Rahman al-Mawli al-Salbi (alias Abdullah Qardash, alias Hadschi Abdullah) ist Turkmene aus der syrisch-irakischen Grenzstadt Tel Afar und studierter Theologe. Befördert durch diesen Hintergrund machte er schnell Karriere beim IS und gab die Fatwas heraus, welche den Genozid in Şengal im August 2014 und die Versklavung der ezidischen Frauen religiös rechtfertigten und anordneten. Im Jahr 2004 lernte er in Haft im US-amerikanischen Camp Bucca im Süden des Irak Baghdadi kennen. Seit dessen Tod soll al-Salbi darum bemüht gewesen sein, die Reihen in der IS-Führung zu schließen. Mittlerweile ist er einer der letzten IS-Terroristen der ersten Generation, die bereits 2004 gegen die USA gekämpft haben. Bereits vor Baghdadis Tod hatte die US-Regierung fünf Millionen US-Dollar auf al-Salbis Kopf ausgelobt. Außerdem brisant: er hat einen Bruder in der Türkei, der als Vertreter der „Irakischen Turkmenenfront“ Erdogans Einfluss im Irak sichert.
Taner Sabri Görenoğlu kommt aus dem direkten Umfeld von al-Salbi. Unsere Rojava-Korrespondentin Bêrîtan Sarya konnte ein Interview mit dem Dschihadisten, der sich in Nordsyrien in kurdischer Haft befindet, führen und exklusive Informationen über den neuen IS-Führer erhalten (Erster Teil: Neuer IS-Chef ist Erdoğan-Symphatisant).
Dogmenwechsel beim IS?
Im zweiten Teil des Gesprächs berichtet Görenoğlu, im August 2017 von al-Salbi angewiesen worden zu sein, in die Türkei zu reisen. Al-Salbi selbst sowie zwei seiner Männer hätten bereits vor ihm die Grenze zur Türkei überquert, behauptet Görenoğlu. Der Tod des ehemaligen IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi zahle sich am meisten für den türkischen Staat aus, da der zweitwichtigste Mann nach Baghdadi der Turkmene al-Salbi sei. Schließlich stünden alle Turkmenen der Türkei nah. Das komme dem Geheimdienst (MIT) natürlich gelegen.
„Es deutet sich zudem ein Dogmenwechsel beim IS an. Salbi vertritt eine andere Formulierung als Baghdadi. Seine Auslegung ist auch nicht so streng wie die von Abu Mohammad al-Adnani (galt bis zu seinem Tod im August 2016 als Chef des IS-Geheimdienstes, Sprecher und Leiter der Propaganda-Abteilung, Anm. d. Red.) oder Wa'il Adil Hasan Salman al-Fayad (bekannt als Abu Muhammad al-Furqan, bis zu seinem Tod im September 2016 IS-Medienverantwortlicher und Mitglied im Schura-Rat des IS, Anm. d. Red.). Er wird mit der Türkei und al-Qaida einen lockeren Umgang pflegen. Ich gehe davon aus, dass Hadschi Abdullah sich beiden Seiten nähern und mit ihnen zusammenarbeiten wird”, glaubt Görenoğlu.
Neuer IS-Chef sitzt in der Türkei
Der Gefangene meint auch zu wissen, al-Salbi würde sich mit zwei seiner Gefolgsleute in der Türkei aufhalten. Dazu erklärt er: „Ich weiß sehr genau, dass die drei im Februar 2017 nach Idlib gingen, um von dort aus weiter in die Türkei zu reisen. Bei seinen Gefolgsleuten handelt es sich um Murat Qardash und Laith Abush. Erfahren habe ich das unter anderem durch letzteren. Als Abush mich über die geplante Türkei-Reise informierte, fragte ich ihn, was denn mit mir sei. Er entgegnete: ‚Sobald wir den Zeitpunkt deiner Ausreise bestimmt haben, werden wir dich darüber unterrichten.‘“
Auf die Frage, ob es sich um ein taktisches Manöver handelt und al-Salbi doch in Idlib geblieben sein könnte, antwortet Görenoğlu: „Das kann ich mir kaum vorstellen. Schließlich steckt die Region mitten in einem Krieg. Außerdem ist Hadschi schlecht zu Fuß, da er gesundheitliche Probleme hat. Im Übrigen legt er einen hohen Wert auf seine Sicherheit. Bei der FSA und anderen dschihadistischen Gruppen in Idlib wimmelt es nur von Spitzeln des US-Geheimdienstes. Daher würde er sich hüten, in der Gegend zu bleiben. Für ihn ist die Türkei der sicherste Ort. Dort kann er eine unbehelligte und uneingeschränkte Bewegungsfreiheit genießen. Den Blicken Erdogans würde er sich nicht entziehen, aber den USA wird er sich natürlich nicht zeigen.”
Einige Monate nachdem sich al-Salbi und seine Gefolgsleute nach Idlib begaben, soll Görenoğlu eine Notiz erhalten haben, in der er aufgefordert wurde, die Grenze zur Türkei zu überqueren. „Die Bitte kam von Hadschi Abdullah. In der Notiz stand, dass neue Aufgaben auf mich warten würden. Meine Familie und ich sowie einige Zivilisten brachen daraufhin aus Abu Khashab (Deir ez-Zor / Ostsyrien, Anm. d. Red.) auf und begaben uns in das von den YPG kontrollierte Gebiet. Nach sechs Tagen Aufenthalt nahe Minbic wurden wir von den Demokratischen Kräften Syriens festgenommen.”
Vom IS-Chef ausgebildet
Warum ihm kein Schmuggler zugewiesen wurde, obwohl er auf Anordnung von al-Salbi die Region verlassen habe, will ich wissen. Görenoğlu antwortet: „Seit 2015 tarnte ich mich bereits als Zivilist. So war es für mich einfacher, meinen Pflichten nachzugehen. Ich bin arabischstämmig, dementsprechend ist mein Arabisch ziemlich gut. Da meine Frau Syrerin ist, war die Reise als zivile Person relativ unbeschwert.
Wir haben eine ausgiebige Ausbildung von Hadschi Abdullah erhalten. Ich weiß gar nicht, wie mir passieren konnte, in Gefangenschaft zu geraten. Es scheint Gottes Wille zu sein. Schließlich hatten wir ein besonderes Kommunikationssystem, nahmen nicht an Versammlungen teil, gingen nicht zu persönlichen Treffen. Auch Hadschi wohnt Zusammenkünften nicht bei. Sein engster Kreis besteht aus Leuten, die ein Vertrauensvotum erhalten haben. In mehreren Schritten stellt er sie auf die Probe, bevor er ihnen vertraut. Niemand kennt sie. Hadschi Abdullah nutzt keine streng hierarchische, stufenförmige Organisationsform wie das Pyramidensystem. Er kommuniziert direkt, um auf Zwischenkontakte zu verzichten, da sie ein Sicherheitsleck verursachen könnten. Solche Personen bleiben innerhalb der Organisation eher im Hintergrund.”
Laith Abush rechte Hand von al-Salbi
Taner Sabri Görenoğlu äußert, Laith Abush sei Turkmene aus dem Irak und „die rechte Hand” des neuen IS-Chefs. In seinen Verantwortungsbereich fielen hauptsächlich militärische Aufgaben in kritischen Regionen, da er ausgesprochen kriegserfahren sei. Unter Saddam Hussein habe er in der irakischen Armee gedient und soll bereits vor der „Kalifatsgründung” aktiv innerhalb der IS-Strukturen im Irak gewesen sein. Bei der turkmenischen Gemeinschaft sei er außerdem äußerst beliebt.
„Auch Murat Qardash gehört zu den Vertrauten von Hadschi Abdullah. Gleichzeitig kümmert er sich um die Belange von Hadschis Frau Zübeyde. Er ist ihr Personenschützer und begleitet sie überallhin. Ich bin mir nicht sicher, glaube aber, dass ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen Qardash und Hadschi Abdullah besteht”, so Görenoğlu.
Stärkster Mann nach Baghdadi
Dass al-Salbi die Nachfolge des getöteten IS-Anführers Baghdadi antreten würde, zeichnete sich schon früh ab, meint Görenoğlu. „Er galt schon länger als aussichtsreichster Kandidat für diese Position, da er seit vielen Jahren aktiv ist und innerhalb der Strukturen sehr geschätzt wird. Im Übrigen existieren kaum noch Personen aus dem alten Führungszirkel. Sie alle wurden getötet. Eigentlich rechnete man mit Haji abd al-Nasser (alias Taha Abdurrahim Abdullah, hochrangiger IS-Kommandant, befindet sich ebenfalls in QSD-Gefangenschaft, Anm. d. Red.) als Baghdadi-Nachfolger, er war aber Teil des extrem radikalen Flügels und sorgte innerhalb der Organisation für Verwirrung. Daher wurde er von seinen Ämtern abgesetzt. Als Alternative kam auch Haji Hamed in Frage. Aber er ist ideologisch gesehen eher schwach.“
Operation gegen Baghdadi nicht ohne Kenntnis der Türkei
Ende Oktober war der selbsternannte IS-Kalif Baghdadi in der türkischen Besatzungszone im Norden von Idlib bei einer gemeinsamen Operation der USA und der QSD getötet worden. Ankara unterhält in der Region dreizehn Beobachtungsposten und betreibt mehrere Stützpunkte. In der Nähe einer dieser Basen lag auch das Anwesen von Baghdadi, in das er sich knapp ein halbes Jahr vor dem Zugriff zurückgezogen hatte. Dennoch zeigte sich die türkische Regierung überrascht von der Operation, über deren Ziel sie offiziell nicht informiert worden sei und behauptete, den Aufenthaltsort Baghdadis nicht gekannt zu haben.
„Das der türkische Geheimdienst keine Ahnung von einer Operation gegen Baghdadi gehabt haben soll, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen”, meint Görenoğlu lachend. „Wir sprechen von einer Operation in Idlib, in deren Rahmen Hubschrauber zum Einsatz kamen. Für wen? Entweder gegen al-Nusra oder den IS. Gehen wir mal davon aus, die Türkei wurde tatsächlich nur eine Viertelstunde vor der Operation informiert. Trotzdem hätte der MIT genug Zeit gehabt, Baghdadi zu warnen, und er wiederum dafür, seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Ich vermute, die Weitergabe dieser Information an Baghdadi war gar nicht gewollt.”
Baghdadis Tod kommt Ankara gelegen
Baghdadi habe nicht in einem besonders nahen Verhältnis zur Türkei gestanden, behauptet Görenoğlu. Seine Ausschaltung würde Ankara deshalb von Nutzem sein. „Dass Hadschi Abdullah Nachfolger von Baghdadi werden würde, war dem MIT von vornherein klar. Ein Türkmene an der IS-Spitze kommt sehr gelegen. Die Turkmenen pflegen beste Beziehungen zur Türkei. Zudem ist klar, dass die Türken den Tod Baghdadis wollten, damit ihr Mann an seiner Stelle die Führung der Organisation übernimmt. Sie erhoffen sich dadurch neben der FSA eine weitere Macht, um sie im Kampf gegen die PKK und das syrische Regime einzusetzen. Das ist auch der Grund, weshalb Baghdadi nicht über die Operation gegen ihn informiert wurde.”
Baghdadi habe zwar die Spitze des IS repräsentiert. Lenker der dschihadistischen Miliz seien allerdings die irakischen Turkmenen gewesen, so Görenoğlu. „Laith Abush, Hadschi Abdullah und Haji abd al-Nasser beispielsweise sind/waren wichtige Funktionsträger beim IS. Den Kern bilden also die Turkmenen. Außerdem wissen doch alle, ob es nun Zivilisten oder IS-Mitglieder sind, dass die Turkmenen eine besondere Sympathie für Erdogan und den IS haben. Auch innerhalb des MIT spielen sie eine große Rolle.”
Türkische Kurdenpolitik: IS soll gegen PKK kämpfen
Görenoğlu spricht von Konflikten innerhalb des IS, die seit 2017 zwischen dem aus den „Aussiedlern” genannten „radikalen” Flügel und den der al-Qaida nahestehenden „Oppositionellen” ausgetragen würden. Hadschi Abdullah alias al-Salbi zähle sich selbst zum oppositionellen Lager. Mit ihm an der Spitze werde sich der IS weiter an den türkischen Staat annähern. Als Grund nennt er die „moderate” Interpretation des Islams al-Salbis, die sich entgegen der harten Auslegung Adnanis oder Fayads an der von al-Qaida orientieren würde.
„Das wird sich auch für die Türkei als sehr nützlich erweisen. Diese neue Situation wird darauf hinauslaufen, dass sich der IS im Kampf gegen die PKK zu einem treuen Verbündeten Ankaras etablieren wird. Treu nach dem Motto: ‚Mein Feind ist auch dein Feind, lass ihn uns gemeinsam bekämpfen‘. Bereits Ebu Hanzala (Halis Bayancuk, radikal-islamistischer Prediger und Sohn eines Emirs der türkischen Hizbullah, Anm. d. Red.) hinderte Personen daran, zum IS zu gehen, und rief sie stattdessen zum Dschihad gegen die PKK auf. Das ist die Politik der Türkei. Es geht darum, Kanonenfutter gegen die PKK zu bekommen. Gestern war es die FSA, heute soll mit dem IS eine neue Proxy-Armee für Ankara aufgebaut werden“, erklärt Görenoğlu.
IS mit al-Salbi an der Spitze wird sich al-Qaida nähern
Es handele sich nur noch um eine Frage der Zeit, bis der IS einen Appell zur Reformation veröffentlichen wird, glaubt der Islamist Görenoğlu. Die Anhängerschaft der Miliz wisse im Moment nicht, wo man stehe. Es bedürfe eine grundlegenden Erneuerung, die letztlich auf eine Annäherung an al-Qaida hinausläuft. Ein „Friedenspakt” zwischen den beiden Terrororganisation dürfe nicht verwunderlich sein. „Für al-Qaida vertritt die Türkei ein Islamverständnis in seinem Sinne. Deshalb wurden türkische Hubschrauber in Afghanistan nie abgeschossen.”
An unmittelbar drohende Anschläge des IS in Europa glaubt Görenoğlu nicht. Die Miliz stecke mitten in ihrer Reorganisierung. Auf die Frage, wo der IS seine Kräfte sammelt, antwortet er: „In der Türkei und den türkischen Besatzungszonen in Syrien. Die Alaqat Harijia (IS-Zellen für „auswärtige Operationen” = Anschläge außerhalb des sogenannten IS-Gebiets, Anm. d. Red.) reaktivieren und organisieren sich momentan neu. Sobald sie soweit sind, wird es zu Anschlägen kommen.”
Rund die Hälfte der weltweiten Terroranschläge (außerhalb von Syrien und dem Irak), die vom sogenannten „Islamischen Staat” koordiniert oder inspiriert wurden, ereigneten sich in Europa und den USA. Insbesondere Frankreich beklagt eine Vielzahl von Opfern tödlicher Anschlagsereignisse. Die Milizanhänger berufen sich zur Rechtfertigung ihrer Anschläge auf die Grundlagen des Islam, der dem Zweck entsprechend interpretiert wird. Der Dschihad wird kompromisslos als islamisch legitimierter militärischer Kampf zur Ausweitung und Verteidigung des Islams verstanden. Treue Krieger, die im Auftrag Allahs Ungläubige - ob Eziden, Christen oder Schiiten, ob Männer, Frauen oder Kinder - bekämpfen. So inszeniert sich der IS.
Erdogan sichert unseren Lebensraum
In der Türkei kam es ebenfalls zu verheerenden Anschlägen des IS. Bei dem als „Massaker von Ankara“ bekannt gewordenen Selbstmordanschlag auf eine Friedenskundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) am 10. Oktober 2015 in Ankara wurden 103 Menschen getötet, 500 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Genau drei Monate zuvor kam es am 20. Juli 2015 zu einem Selbstmordattentat in Pirsûs (Suruç), als sich auf Aufruf der Föderation Sozialistischer Jugendvereine (SGDF) 300 junge Menschen im Kulturzentrum Amara versammelten, um vor ihrer Abreise nach Kobanê eine Pressekonferenz abzuhalten. Die geplante Fahrt nach Kobanê sollte ein Akt der Solidarität sein. Die Jugendlichen wollten Kinderspielzeug und humanitäre Hilfsgüter in die vom IS zerstörte Stadt bringen. Der polizeibekannte IS-Attentäter Abdurrahman Alagöz sprengte sich selbst in die Luft und riss 33 Menschen mit in den Tod. Über hundert Menschen wurden verletzt. Am 5. Juni 2015 kam es während einer Wahlkundgebung der HDP in Amed (Diyarbakir) zu zwei Explosionen, bei denen fünf Menschen ihr Leben ließen und dutzende weitere Personen verletzt wurden.
Auf die Frage, ob es nicht auffällig sei, dass sich die IS-Anschläge in der Türkei fast ausnahmslos gegen kurdische Zivilisten, Demokraten und Sozialisten richteten, antwortet Görenoğlu: „Naja, Erdogan und Sarkozy beispielsweise sind ja nicht miteinander zu vergleichen. Selbstverständlich ist Erdogan der bessere von beiden. Er sichert uns Lebensraum. In der Türkei können wir ganz entspannt leben, arbeiten und unsere Kräfte bündeln. Momentan halten sich dort rund 25.000 treue IS-Mitglieder auf. Die meisten von ihnen waren vorher in Syrien und dem Irak, vereinzelt sind auch neue aus dem Ausland hinzugestoßen. Die Türkei stellt sozusagen ihre Versammlungsstelle dar. Gut, es befinden sich einige in Haft. Aber auch viele, die verhaftet wurden, sind später wieder freigelassen worden.”