Çiğdem Doğu: Kontinuität im Wandel

Mit ihrer Selbstauflösung tritt die PKK in eine neue Phase der politischen Neustrukturierung. In einer programmatischen Rede analysiert Çiğdem Doğu (KJK), warum dieser Schritt kein Bruch ist, sondern eine ideologische Vertiefung darstellt.

Wertewahrung und Zukunftsverantwortung in der kurdischen Freiheitsbewegung

Im Rahmen des 12. Kongresses der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der vom 5. bis 7. Mai in den Medya-Verteidigungsgebieten stattfand, äußerte sich Çiğdem Doğu, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (KJK), in einer programmatischen Rede zur historischen, politischen und ideologischen Bedeutung der Kongressbeschlüsse – die Auflösung der PKK und die Einstellung des bewaffneten Kampfes. Diese Entscheidung markiert nach Doğus Einschätzung nicht das Ende, sondern eine bewusste Transformation: eine organisatorische Neustrukturierung unter Beibehaltung der ideellen Grundpfeiler der kurdischen Befreiungsbewegung.

Kontinuität der Werte trotz organisatorischer Auflösung

Doğu stellte klar, dass mit der Selbstauflösung der PKK nicht deren ideelle und ethische Substanz aufgegeben werde. Vielmehr seien es eben diese durch jahrzehntelange Praxis und Theorie gewachsenen Werte, darunter kollektive Moralvorstellungen, eine emanzipatorische Freiheitsphilosophie und eine spezifische Organisationskultur, die als Grundlage für eine neue Phase des politischen Engagements dienen würden, „Wir lösen die PKK nicht auf, weil wir gescheitert wären, sondern weil wir im Geiste von Abdullah Öcalan einen freiwilligen und selbstbestimmten Transformationsprozess einleiten. Die von der PKK geschaffenen Werte bilden dabei das Fundament unserer zukünftigen Praxis“, so Doğu.


Eine freiwillige Neustrukturierung

Doğu widersprach in ihrer Analyse entschieden politischen Deutungen in der Türkei und darüber hinaus, die die Selbstauflösung der PKK als Zeichen von Niederlage oder Kapitulation verstehen. Diese Perspektive sei Teil einer strategischen Desinformation im Rahmen psychologischer Kriegsführung, betonte sie: „Der türkische Staat versucht, die Selbstauflösung als Scheitern darzustellen. Doch unsere Entscheidung entstammt nicht äußerem Druck, sondern ist ein bewusster Ausdruck innerer Souveränität.“

Sie ordnete den Schritt in einen größeren historischen Kontext ein: „Die PKK ist möglicherweise die erste politische Organisation in der Geschichte des Nahen Ostens, die sich aus freiem Willen und auf Basis ideologischer Selbstreflexion strukturell transformiert.“ Das sei ein Vorgang, den Doğu als „historisch und einzigartig“ beschrieb.

Die PKK als Lernort

Doğu beschrieb die PKK als eine „mütterliche Instanz“, die ihren Mitgliedern nicht nur politische Bildung, sondern auch ethische, soziale und emotionale Orientierung bot. Die Organisation sei für viele ein Ort gewesen, an dem grundlegende soziale Kompetenzen, etwa in Bezug auf Geschlechterrollen, Kollektivität und Verantwortung, vermittelt wurden: „Was wir in unseren Herkunftsfamilien nicht gelernt haben, lehrte uns die PKK: Würde, Respekt, Liebe, Kollektivität, Verteidigung des Lebens.“

Dabei hob sie insbesondere die Rolle der Frauenbefreiung hervor. Die PKK habe eine völlig neue Perspektive auf Geschlechterverhältnisse und gesellschaftliche Strukturen eröffnet, die weit über traditionelle sozialistische Ansätze hinausgehe, insbesondere durch den Aufbau einer eigenständigen Frauenbewegung und einer autonomen Frauenarmee.

Kritik und Weiterentwicklung des Sozialismusbegriffs

Doğu verwies im weiteren Verlauf ihrer Analyse auf die theoretische Weiterentwicklung der PKK seit den 1980er Jahren. Bereits damals habe Abdullah Öcalan begonnen, den Realsozialismus kritisch zu hinterfragen und alternative, stärker an der Realität des Nahen Ostens orientierte Modelle zu entwickeln. Zentral seien dabei neue Herangehensweisen an Themen wie Frauenbefreiung, Ökologie und basisdemokratische Selbstorganisation gewesen: „Rêber Apos Analysen in den politischen Berichten des 5. Kongresses bieten wertvolle theoretische Grundlagen für eine emanzipatorische Gesellschaftsform jenseits von Staatssozialismus und kapitalistischer Moderne.“ Diese Elemente mündeten schließlich in der Konzeption des Demokratischen Konföderalismus, der die Grundlage für aktuelle Transformationsprozesse bilde.

Tiefere Verwurzelung statt Abbruch

Die Selbstauflösung der PKK versteht Doğu nicht als Bruch, sondern als Vertiefung und Erweiterung der bisherigen Praxis. Die ideellen Wurzeln würden nicht gekappt, sondern weiter ins gesellschaftliche Gefüge hineinverankert: „Wir lassen die Werte nicht hinter uns – wir treiben ihre Verankerung noch tiefer. Es ist ein historischer Schritt der Verinnerlichung und Ausweitung.“ Die zukünftige Entwicklung sei dabei offen und von Risiken begleitet. Umso größer sei die Verantwortung jener, die an diesem Kongress teilgenommen haben. Doğu beschrieb die Kongressteilnehmenden als Garanten für die Fortsetzung und kreative Weiterentwicklung der 52-jährigen Bewegungstradition.

Orientierung durch Öcalans Perspektiven

Doğu verwies abschließend auf die Notwendigkeit, die von Abdullah Öcalan formulierten sieben Perspektivlinien für die Zukunft zu vertiefen. Die darin enthaltene Kombination aus Gesellschaftsanalyse, ethischer Orientierung und strategischer Anleitung sei die Grundlage für eine neue Phase politischer Praxis: „Die entscheidende Frage ist nicht mehr nur, was wir auflösen – sondern wie wir die gewonnenen Erkenntnisse produktiv in eine neue gesellschaftliche Realität überführen.“