Der Paradigmenwechsel der PKK aus Sicht von Besê Hozat
Mit dem zwölften Kongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der vom 5. bis 7. Mai in den Medya-Verteidigungsgebieten stattfand, und der Entscheidung nach einer Auflösung und dem Ende des bewaffneten Kampfes, beginnt für die kurdische Freiheitsbewegung ein neuer Abschnitt ihrer politischen und ideologischen Geschichte. Inmitten sich wandelnder geopolitischer Konstellationen, gesellschaftlicher Herausforderungen und strategischer Neuorientierungen betonte Besê Hozat, Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), die historische Bedeutung dieses Kongresses – nicht als Ende, sondern als bewussten Neuanfang.
Eine neue politische Geschichte schreiben
Hozats Ausführungen markierten einen strategischen Wendepunkt. In bewusster Anknüpfung an das Denken Abdullah Öcalans und vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Weltlage formulierte sie den Anspruch, eine neue politische Geschichte zu schreiben – nicht durch Wiederholung im Kontext des bewaffneten Widerstands, sondern durch radikale Erneuerung von Denken, Strukturen und Beziehungen. Die PKK verstehe sich dabei als Teil einer breiten Bewegung für gesellschaftliche Emanzipation, deren Zukunft im Aufbau demokratischer, ökologischer und geschlechterbefreiter Lebensformen liege.
Der Kongress als Zäsur und Neugründung
In ihrer Eröffnungsrede verwies Hozat zunächst auf die emotionale und politische Tiefe des Kongresses, den sie als Zäsur nach 52 Jahren Bewegungsgeschichte deutete. Dabei erinnerte sie an die im Kampf gefallenen Mitbegründer der PKK, Ali Haydar Kaytan und Rıza Altun – die PKK hatte ihren Verlust gestern bekanntgegeben – , deren Vermächtnis sie mit Respekt, Liebe und Dankbarkeit ehrte. Doch statt eines bloßen Rückblicks auf das Vergangene stand der Kongress für eine radikale Erneuerung, einen „Transformations- und Restrukturierungsprozess“, wie Hozat ihn nannte – getragen von der Überzeugung, dass mit dem Paradigma des Parteibegründers Abdullah Öcalans ein neuer historischer Abschnitt möglich und notwendig sei.
Die zentrale Rolle Abdullah Öcalans
Besê Hozat betonte die ungebrochene Bedeutung Abdullah Öcalans als intellektuelle und strategische Leitfigur. Die politische Substanz des Kongresses sei wesentlich durch Öcalans „Bericht zur politischen Lage“ geprägt worden – ein Dokument, das unter den extremen Haft- und Isolationsbedingungen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali dennoch entstand und der Bewegung neue Denkräume eröffnete. Öcalans kontinuierliche Teilnahme an der strategischen Ausrichtung der PKK, auch nach seiner Gefangennahme 1999, habe der Bewegung über die Jahrzehnte hinweg ihre politische Substanz bewahrt. Ohne seine Schriften und Interventionen – insbesondere die fünf Bände umfassende Verteidigungsschrift „Manifest der demokratischen Zivilisation“ – sei die Bewegung nicht überlebensfähig gewesen, so Hozat. Sie beschrieb seine intellektuelle Arbeit als permanenten Akt der Selbstüberwindung: „Rêber Apo hat sich zehntausendfach neu erschaffen – und dadurch die Bewegung immer wieder zur Erneuerung gezwungen.“
Transformation durch Selbstüberschreitung
Diese Strategie der fortlaufenden Selbstkritik und Transformation sei laut Hozat nicht nur ein persönlicher Entwicklungsweg Öcalans, sondern ein strukturelles Modell für die gesamte Bewegung. Führungspersönlichkeiten, Kader und politische Kollektive müssten sich aus ihrer eigenen Denkweise heraus erneuern, um gesamtgesellschaftliche Veränderungen zu ermöglichen. Ohne die bewusste Selbstüberschreitung der Leitungsebene sei eine Weiterentwicklung in der Basis – in der Gesellschaft, in der Jugend, in den Sympathisant:innen – nicht denkbar. Der politische Wandel beginne im Denken, in der Selbstreflexion und in der Bereitschaft zur geistigen und organisatorischen Neugründung.
Paradigmenwechsel: Von der bewaffneten zur gesellschaftlichen Befreiung
Einen besonderen Stellenwert innerhalb von Öcalans politischem Bericht nahm Kritik an der männlich dominierten, patriarchalen Gesellschaftsordnung ein. Etwa die Hälfte des Berichts widmete sich laut Hozat der Analyse des Geschlechterverhältnisses, das als Schlüssel zur Transformation gesellschaftlicher Mentalitäten, kultureller Normen und ökonomischer Ordnungen verstanden wird. Demokratische, sozialistische und kommunale Ansätze sollen nicht als abstrakte Ideale verbleiben, sondern auf der praktischen Überwindung patriarchaler Denkmuster basieren.
In diesem Zusammenhang sei auch die angekündigte Abkehr von der prioritären Ausrichtung auf den bewaffneten Kampf zu verstehen. Die Hinwendung zu einer politischen, gesellschaftlich verankerten Strategie folge nicht einem taktischen Kalkül, sondern einer tiefgreifenden philosophischen und organisatorischen Neuausrichtung. Der Fokus verlagere sich auf den Aufbau demokratischer Selbstorganisationsstrukturen, die langfristige Emanzipation ermöglichen, so Hozat.
Eine neue Geschichte der Befreiung
„Wir schreiben eine neue Geschichte“, erklärt Hozat mit Nachdruck. Die PKK verstehe sich in diesem neuen Abschnitt als Initiatorin eines historischen Wandels, der weit über die kurdische Frage hinausreiche. Die künftige Geschichte der Freiheit werde „auf eigenen Füßen stehen“ – getragen von „denjenigen, die den Mut haben, das bestehende Paradigma zu überwinden“. Die PKK habe, so Hozat, der Geschichte ihren Stempel aufgedrückt: durch ihre ideologischen Beiträge, ihre Praxis, ihre Fehler und Erfolge, und nicht zuletzt durch ihren Einfluss auf globale Emanzipationsbewegungen. Die künftige Aufgabe bestehe nun darin, das Erbe dieser Bewegung zu bewahren, weiterzuentwickeln und es als Kraftquelle für den nächsten Abschnitt zu nutzen.
Auftrag zur politischen und moralischen Erneuerung
„Die neue Phase erfordert eine neue politische Ethik – getragen von Überzeugung, Verantwortung und Selbstdisziplin“, führte Besê Hozat weiter aus. Die kurdische Bewegung sehe sich längst nicht mehr nur als militärische Organisation, sondern als soziale Avantgarde, die eine demokratische Moderne zu begründen sucht. Dieses Selbstverständnis verlange nicht nur organisatorische Anpassungen, sondern einen Mentalitätswandel: hin zu kollektiver Verantwortungsübernahme, eigenständigem Denken, und dem Mut zur Veränderung.