Auch zwei Jahre nach dem erzwungenen Waffenstillstand in Nordsyrien hält sich die Türkei nicht an die mit Russland und den USA getroffenen Abkommen. Nach wie vor ist kein Ende der türkischen Luft- und Bodenangriffe in Sicht, nahezu täglich kommt es zu Bombardierungen von Wohngebieten und ziviler Infrastruktur. Nach Angaben von Aram Hanna, dem Sprecher der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), wurden in den vergangenen zwei Jahren 433 Artillerieangriffe und Drohnenschläge an den Rändern der türkischen Besatzungszone zwischen Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain) verzeichnet. Schwerpunkte bildeten dabei die an der Schnellstraße M4 gelegenen Verkehrsknotenpunkte Ain Issa, Til Temir und Zirgan. Mindestens 86 Offensiven der türkischen Armee und türkeitreuer Dschihadistenmilizen der SNA (sogenannte „Syrische Nationalarmee“) zur Ausweitung der Besatzungszone haben die QSD und ihre Mitgliedsverbände im selben Zeitraum abgewehrt.
Ausbleibende Reaktion bedeutet Zustimmung für türkische Verbrechen
„Die internationale Gemeinschaft und Akteure in der Syrienfrage schweigen zu diesen Verstößen der Türkei”, kritisiert Hanna. Die ausbleibende Reaktion, auch seitens der Garantiemächte des Waffenstillstands könne so als Zustimmung und Beihilfe zu den türkischen Verbrechen gewertet werden. Laut Hanna versuchten die türkischen Besatzungstruppen mit häufigem Artilleriefeuer, wiederkehrenden Vorstößen und gezielten Angriffen auf die Infrastruktur und Siedlungsgebiete „einen ständigen Zustand des Chaos und der Instabilität zu schaffen und die Bevölkerung zu vertreiben, um den Prozess des demografischen Wandels zu vollziehen“. Durch die Ansiedlung von protürkischen Besatzungsmilizen, die sich zum Teil aus ehemaligen Söldnern der Terrororganisationen „Islamischer Staat“ (IS) und Al-Nusra-Front zusammensetzen, und ihren Familien sollen auch die Gebiete im Umland der bereits besetzten Regionen langfristig in den Machtbereich Ankaras integriert werden.
Aram Hanna löste im August Kino Gabriel als QSD-Sprecher ab
„Diese Angriffe beeinträchtigen jedoch die Bemühungen der QSD im Kampf gegen den Terror und die Verfolgung und Zerschlagung von IS-Zellenstrukturen“, sagt Aram Hanna. Eine klare Haltung der internationalen Staatengemeinschaft und Beteiligten an den Verhandlungen über eine Konfliktlösung gegen die Türkei sei daher unabdingbar für ein erfolgreiches Vorgehen gegen terroristische Zellen. Untätigkeit und Ignoranz dem türkischen Bestreben in Syrien gegenüber würde nur einer neuen Generation von Terroristen fruchtbaren Boden bringen, warnt der QSD-Sprecher.
Besetzung von Serêkaniyê und Girê Spî
Am 9. Oktober 2019 begann mit einem erneuten Angriffskrieg des NATO-Mitglieds Türkei gegen Nordsyrien die Invasion von Serêkaniyê und Girê Spî. Knapp zwei Wochen später segneten die USA und Russland die Besatzung beider Städte ab. Mehr als 200.000 Menschen mussten damals ihre Heimat verlassen, an ihrer Stelle wurden in Rojava unter türkischer Ägide Islamisten aus aller Welt angesiedelt. Zwei Abkommen zur Invasion und den neuen militärischen Kräfteverhältnissen in der von Ankara als „Terrorkorridor“ bezeichneten Besatzungszone, die noch im Oktober zwischen Russland, den USA und der Türkei geschlossen wurden, sollte den Kampfhandlungen zwar ein Ende setzen. Doch das türkische Regime verwandelte die Vereinbarungen vom ersten Tag an in eine Farce.
68 Tote binnen weniger Wochen nach Abkommen
Allein von Beginn des Waffenstillstands am 17. Oktober bis zum 3. Dezember 2019 hat die Türkei laut einer Bilanz 143 Angriffe auf QSD-Einheiten und Stellungen der syrischen Armee östlich von Serêkaniyê und westlich von Girê Spî durchgeführt, 42 davon mit bewaffneten Drohnen. 147 Mal wurden Gebiete und zivile Siedlungen innerhalb der Waffenstillstandsregion von Panzern und Haubitzen beschossen. Bei den Angriffen sind 68 Menschen aus der Zivilbevölkerung getötet worden, weitere 214 Zivilistinnen und Zivilisten wurden verletzt. 64.000 Menschen sind in die Flucht getrieben worden.