Die IS-Bedrohung steigt erneut weltweit. Dies zeigen die Angriffe von Mannheim, das verheerende Massaker von Moskau und die neuerlichen Drohungen deutlich. Die Menschen in Nord- und Ostsyrien sind jedoch jeden Tag mit IS-Angriffen konfrontiert. Tausende IS-Gefangene aus unzähligen Ländern befinden sich in den Gefängnissen der Autonomieregion, Zehntausende Angehörige in Internierungslagern. Währenddessen bietet die Türkei in den von ihr besetzten Gebieten in Nordsyrien dem IS und anderen Terrorgruppen einen Rückzugsort. Sie unterstützt IS-Terroristen in der Region, wie beim Angriff und Ausbruchsversuch auf das Sina-Gefängnis in Hesekê im Januar 202,2 und destabilisiert die Region mit täglichen Bombardements. In Internierungslagern wie al-Hol ist bereits eine neue IS-Generation herangewachsen, welche die Sicherheit der Weltbevölkerung bedroht. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen befragte die Abgeordnete der Linkspartei, Gökay Akbulut, die Bundesregierung nach der „Sicherheitsgefährdung durch Mitglieder des IS in Nord- und Ostsyrien“.
„Regierung entzieht sich ihrer Informationspflicht zur Sicherheitslage“
Die Antwort der Bundesregierung war äußerst schmallippig und wurde mit einer Geheimhaltungsverfügung „aus Gründen des Staatswohls“ für Kernfragen eingeleitet. Dabei handelt es sich um die Fragen „Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die derzeitigen Aktivitäten und Ziele der Terrororganisation Islamischer Staat in Nord- und Ostsyrien?“ und „Inwieweit sieht die Bundesregierung die Gefahr eines Wiederauflebens des IS im Irak und in Syrien, und auf welche Ursachen führt sie diese gegebenenfalls zurück?“. Diese Fragen wären eigentlich leicht zu beantworten, offen und ohne auf Geheimdiensterkenntnisse zurückzugreifen. Ein Blick in die Zeitung genügt um festzustellen: Der IS agiert in Schläferzellen in Nord- und Ostsyrien, aber auch im Irak, verübt dort Mordanschläge und versucht, zunächst ein informelles Terrorregime aufzubauen. Dabei wird er von der Türkei logistisch unterstützt. Möglicherweise steht mehr politische Rücksichtnahme als Geheimhaltung hinter der Verweigerung einer Antwort. Das gilt insbesondere für die zweite Frage, da hier die Regionalmächte und insbesondere der NATO-Partner Türkei eine wichtige Rolle spielen. Nicht nur die verdeckte Unterstützung des IS, sondern vor allem auch die Luftangriffe der Türkei auf die Region, die immer wieder auch Sicherungsanlagen von Haftanstalten oder Internierungslagern treffen, dienen dem Wiederaufleben des IS. So bombardierte am 23. November 2023 die türkische Armee das Wachpersonal des Lagers al-Hol, in dem mehr als 50.000 IS-Angehörige interniert sind. Acht Mitglieder der Sicherheitskräfte wurden bei vier Angriffen getötet. Offensichtlich waren die Angriffe mit IS-Angehörigen im Lager koordiniert, die zeitgleich den Aufstand probten. Immer wieder kommt es mit türkischer Unterstützung zu Ausbrüchen. Ein Massenausbruch würde eine regionale und anschließend eine globale Bedrohung darstellen. Gökay Akbulut kommentierte die Geheimhaltung der Antwort durch die Bundesregierung: „Indem sie Teile der Antwort als Verschlusssache mit Geheimhaltungsgrad einstuft, verletzt die Bundesregierung ihre Verpflichtung, die Sicherheitslage auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbar darzustellen.“
Keine Informationen über inhaftierte deutsche Staatsangehörige
Die Bundesregierung verweigert auch unter fadenscheinigem Verweis auf die seit 2012 geschlossene deutsche Botschaft in Damaskus jegliche Kenntnis zu Belegungszahlen in Haftanstalten in Nord- und Ostsyrien und damit auch zu inhaftierten oder internierten deutschen Staatsangehörigen. Sie verweigert offensichtlich auch jede konsularische Betreuung. Eine ebensolche Betreuung würde offizielle Beziehungen zur Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien erfordern. Dies würde eine Aufwertung der Selbstverwaltung darstellen und den Interessen der Bundesregierung und insbesondere des NATO-Partners Türkei widersprechen. Daher setzt die Bundesregierung alles daran, der demokratisch gewählten und verfassungsmäßig legitimierten Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien jegliche Legitimation abzusprechen, indem sie in ihrer Antwort sogar den Begriff Selbstverwaltung in Anführungszeichen schreibt. Eine Praxis, die aus dem Kalten Krieg bekannt ist. Damals schrieb insbesondere die Springer-Presse den Namen der DDR nur in Anführungszeichen. Dass diese Missachtung Leben kostet, ist offensichtlich für die Bundesregierung in Kauf zu nehmen. So berichtet sie, ihr sei bekannt, dass in den Lagern Menschen teilweise sogar an Tuberkulose sterben. Die Bedingungen in den Lagern sind insbesondere aufgrund fehlender bzw. mangelhafter internationaler Hilfe schwierig.
Keine „eigenen Erkenntnisse“ über IS-Strukturen in Haftanstalten
Die Aussage der Bundesregierung, es lägen keine „offiziellen und eigene belastbare“ Hinweise auf IS-Aktivitäten in Haftanstalten vor, ist ebenfalls Ausdruck des relativierenden Lavierens der Bundesregierung. Die Formulierung „eigene“ bedeutet, dass es Kenntnisse gibt, die aber von anderen Stellen, zum Beispiel von der CIA, stammen. Die Bundesregierung ist jedoch Teil der Anti-IS-Koalition und so liegen ihr sämtliche Daten über die Situation in den Gefängnissen offen. Sie ist nur nicht bereit, diese zu teilen, und stellt sich taub und blind. Um einer Antwort auszuweichen, nutze die Bundesregierung einen weiteren Kunstgriff, kommentierte Akbulut: „Ich habe kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung sich in dieser auch für Deutschland sicherheitsrelevanten Frage darum drückt, nachvollziehbare Angaben zu inhaftierten deutschen IS-Anhängern und ihren Angehörigen in Nord- und Ostsyrien zu machen. Meiner Frage nach deren Zahl weicht sie dadurch aus, dass sie die Lager, in denen zahlreiche IS-Anhänger und ihre Familien festgehalten werden, nicht zu den Haftanstalten zählt.“
Keine Rückholung aus Gefängnissen
Bisher hat die Bundesregierung keine inhaftierten deutschen IS-Anhänger zurückgeholt. Sie berichtet jedoch in ihrer Antwort, sie habe in sieben „aufwändigen Operationen" insgesamt 27 deutsche Frauen, 80 Kinder und einen Heranwachsenden aus Lagern in Nordostsyrien zurückgeholt. Der Aufwand für die Bundesregierung dürfte sich dabei allerdings in Grenzen gehalten haben. Die Anreise nach Nord- und Ostsyrien ist nur aufgrund des Embargos durch die Regime in Ankara und Damaskus und durch die Ankara-hörige PDK-Regierung in Südkurdistan für Helfer:innen, Aktivist:innen und Journalist:innen schwierig. Deutsche Diplomaten dürften damit eher kein Problem haben. Die reale Arbeit, das Versorgen, Ermitteln und Übergeben der betroffenen Personen hat die Selbstverwaltung übernommen. Es ist offensichtlich, dass die Bundesregierung hier Engagement vortäuschen will. Denn die Selbstverwaltung versucht händeringend, die IS-Familien an ihre Heimatländer zu übergeben. Akbulut kommentierte: „Ich kann nicht nachvollziehen, dass die Bundesregierung auf die mit Vertretern der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien geführten Gespräche nicht eingeht. Offenbar will sie den NATO-Partner Türkei nicht verärgern. Ihr Hinweis, dass die deutsche Botschaft in Damaskus seit 2012 geschlossen sei und sie deshalb keine konsularischen Aufgaben erfüllen könne, steht im Widerspruch zur Rückholung der insgesamt 27 deutschen Frauen, 80 Kinder und einem Heranwachsenden aus Lagern in Nordostsyrien.“
Türkei für „Foreign Terrorist Fighters“ zuständig
Die Antwort der Bundesregierung auf die Frage nach Überlegungen in der internationalen Anti-IS-Koalition zum Umgang mit gefangenen IS-Mitgliedern lädt zum Sarkasmus ein. So berichtet die Bundesregierung, dass die Arbeitsgruppe zu den sogenannten „Foreign Terrorist Fighters“ von den Niederlanden, der Türkei und Kuweit geleitet wird. Derselben Türkei, die von der Bundesregierung in einer vertraulichen Antwort auf eine Frage der ehemals linken Abgeordneten Sevim Dagdelen 2016 als „zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens“ bezeichnet wurde. Eine Türkei, die nachweislich für Schleusung von unzähligen IS-Dschihadisten aus aller Welt nach Syrien verantwortlich ist und große Mengen an Waffen an den IS geliefert hat. Dass die Türkei ihre Sorge um „Foreign Terrorist Fighters“ ernst nimmt, zeigt die Beteiligung ihres Geheimdienstes MIT an mehreren Ausbrüchen und Ausbruchsversuchen aus Internierungslagern wie al-Hol. Eine bei einem Ausbruchsversuch aus al-Hol in einem Tanker gestellte IS-Anhängerin erklärte im ANF-Gespräch die Strukturen hinter den „Befreiungsversuchen“. Demnach wird die „Befreiung“ der Dschihadistinnen vom türkischen Geheimdienst MIT durch die berüchtigte „Stiftung für humanitäre Hilfe“ (IHH) organisiert und finanziert. Sie berichtete, dass viele Frauen über die IHH die Türkei erreicht hätten und für eine Zahlung von 15.000 Dollar durch die Familien mithilfe des MIT, des Islamischen Staates (IS) und der Syrischen Nationalarmee (SNA) ein sicherer Transfer möglich sei. Akbulut kommentierte die Antwort der Bundesregierung auf die Frage: „Dass ausgerechnet die Türkei in einer internationalen Arbeitsgruppe mitwirkt, die eine Lösung für die in Nord- und Ostsyrien inhaftierten oder internierten IS-Kämpfer finden soll, ist mehr als nur skurril. Hier wird der Bock zum Gärtner gemacht, denn die türkische Regierung, die islamistische Gruppierungen fördert und ihnen Rückzugsräume bietet, ist mitverantwortlich für die aktuelle Sicherheitslage in Nord- und Ostsyrien.“
375 IS-Rückkehrer:innen registriert
Die Bundesregierung registrierte 416 Rückreisen von 375 IS-Anhänger:innen aus Syrien. Die Diskrepanz ergibt sich, da einige mehrfach hin und her gereist sind. Gegen 312 dieser Personen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, insbesondere stehen dabei Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch und Mitgliedschaft in einer terroristischen bzw. ausländischen terroristischen Vereinigung im Mittelpunkt. 111 Personen wurden demnach bereits verurteilt, 119 Ermittlungsverfahren laufen, 122 Verfahren wurden vorläufig eingestellt. Auch hier sind Mehrfachnennungen von Personen möglich. 46 der Rückkehrer:innen wurden als „Gefährder“ eingestuft, 59 als „relevante Personen“.
Kein Internationales Tribunal für IS-Dschihadisten
Überstellungen von Gefangenen nimmt die Bundesregierung nicht an, da sie die Selbstverwaltung nicht anerkennt, aber auch einem internationalem Tribunal gegen den IS verweigert sie sich mit derselben Begründung. So verhindert die Bundesregierung effektiv eine Ahndung der IS-Verbrechen und verletzt auch ihre Schutzpflichten gegenüber den in Nord- und Ostsyrien inhaftierten deutschen Staatsangehörigen. Akbulut erklärte: „Ich vermisse ein ehrliches Interesse der Bundesregierung, dass die Gräueltaten des IS strafrechtlich verfolgt und juristisch aufgearbeitet werden. Sie hat keinen politischen Willen gezeigt, dass ein internationales Tribunal eingesetzt wird, noch hat sie sich ernsthaft darum bemüht, dass deutsche IS-Kämpfer zurückgeholt und hier in Deutschland vor Gericht gestellt werden. Das ist absolut inakzeptabel, denn Deutschland hat eine Verantwortlichkeit für die deutschen IS-Kämpfer.“
„Die Selbstverwaltung nicht im Stich lassen“
Akbulut schloss mit den Worten: „Die Selbstverwaltung Nordostsyriens darf nicht im Stich gelassen werden. Sie braucht internationale Unterstützung und politische Anerkennung. Denn die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, in der alle dort lebenden Ethnien und Religionsgruppen ihren Platz haben, ist einmalig im Nahen Osten und hat Vorbildcharakter für ein friedliches Zusammenleben und die Gleichberechtigung von Frauen.“