Im Camp Hol leben im Moment 68.000 Menschen, unter ihnen 30.000 IS-Dschihadistinnen mit ihren Familien. Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien ist mit der Sicherung des Camps vor den internierten IS-Dschihadistinnen ebenso wie mit der humanitären Versorgung der im Camp lebenden Menschen wegen des Embargos und der Kriegssituation überfordert. Viele bezeichnen das Camp als „neue Hauptstadt des IS“. Das kommt nicht von ungefähr, denn die IS-Frauen haben sich in Milizen organisiert, welche die Bevölkerung des Camps mit Mordanschlägen und Übergriffen terrorisieren. In der letzten Zeit kam es immer wieder zu Ausbrüchen von Dschihadistinnen. So wurde erst vor wenigen Tagen eine moldawische Funktionärin der IS-Miliz Hisba vom türkischen Geheimdienst MIT aus dem Lager geholt und in die Türkei gebracht. Fast jeden Tag ereignen sich neue organisierte Ausbruchsversuche. Am vergangenen Freitag wurden die beiden IS-Dschihadistinnen Elif Sancar, eine türkische Staatsbürgerin, und die Tschetschenin Fatma Ridvan Aus in einem Wassertanker versteckt aufgegriffen.
Elif Sancar klärt im ANF-Gespräch über die Strukturen hinter den „Befreiungsversuchen“ auf. Demnach wird die „Befreiung“ der Dschihadistinnen vom türkischen Geheimdienst MIT durch die berüchtigte „Stiftung für humanitäre Hilfe“ (IHH) organisiert und finanziert. Sie berichtet, dass viele Frauen über die IHH die Türkei erreicht hätten und für eine Zahlung von 15.000 Dollar durch die Familien mithilfe des MIT, des Islamischen Staates (IS) und der Syrischen Nationalarmee (SNA) ein sicherer Transfer möglich sei.
Elif Sancar ist 24 Jahre als und stammt aus der nordkurdischen Stadt Pasûr (türk. Kulp) in der Provinz Amed (Diyarbakır). Sie war ihrem Ehemann 2014 zum IS gefolgt. Ihr Mann starb im Gefecht, sie ergab sich im März 2019 in Deir ez-Zor den Demokratischen Kräften Syriens (QSD). Seitdem befindet sie sich mit ihren Kindern im Camp Hol. Sie wurde am 25. Juli gefasst, als sie versteckt in einem Wassertanker dem Internierungslager zu entkommen versuchte.
Geld und Fluchtmittel von der IHH organisiert
Sie berichtet über die Organisierung der Flucht: „Ich habe mit meinem großen Bruder telefoniert. Er sagte, die Türkei werde uns aus al-Hol herausholen. ‚Weg und Geld werden von der Türkei über die IHH bezahlt‘, behauptete er. Mein Bruder lebt in der Türkei. Ich habe oft mit ihm telefoniert. Das Telefon habe sie „von einer ‚Schwester'“ erhalten. Damit ist eine weitere IS-Dschihadistin gemeint. Sancar fährt fort: „Sie hat bei ein paar Männern nach einem Handy gefragt. Wer diese Männer waren, weiß ich nicht. Der Name der ‚Schwester‘ war Ayşe. Sie ist auch mit dem Tankwagen in die Türkei gelangt. Das ist bereits zwei Monate her. Wenn der Weg geklärt ist, dann gehen sie mit den Tanklastwagen. Ayşe und die übrigen haben bekundet, das Geld dafür von der Türkei erhalten zu haben.“ Elif Sancar beteuert, dass ihre Familie eine solche Flucht gar nicht hätte bezahlen können und es ohne Geld für den Schlepper nicht möglich sei, aus dem Camp zu fliehen. Sancar fährt fort: „Ich weiß nichts weiter von der IHH, aber ich weiß, dass mein Bruder das Geld vom türkischen Staat über die IHH erhalten hat. Mein Bruder sagte, es sei eine ‚Registrierung‘ notwendig. Ich sollte den Namen meiner Mutter, von mir und den Kindern aufschreiben und Passbilder schicken. Er sagte: ‚Sobald du dich angemeldet hast, wirst du aufbrechen.‘ Er wollte auch Angaben über uns im Camp, also wie viele wir sind und so weiter. Mein Bruder hat das Geld abgegeben und sie sollten uns rausholen. Wir haben die gewünschten Unterlagen beschafft."
Die Türkei will uns befreien
Die Mehrheit der IS-Frauen sei auf diesem Weg geflohen, sagt Sancar und berichtet, dass etwa 30 bis 40 IS-Familien aus der Türkei im Camp leben. Auf die Frage, warum sie vom türkischen Staat aus dem Camp geholt würden, antwortet Sancar, „weil die Türkei uns will".
Um unter der Scharia zu leben
Die Tschetschenin Fatma Ridvan Aus berichtet, sie sei 2016 zum IS gegangen, weil zuvor Freundinnen dorthin gegangen seien und sie eingeladen hätten. Sie war 2015 aufgebrochen und entschloss sich 2016, die Grenze zu überschreiten und beim IS in Syrien zu leben. Sie ging über den Grenzübergang Bal al-Hiwa bei Idlib und von dort in die von ihr als „Gebiete des Dschihad“ bezeichnete vom IS besetzte Region in Syrien.
IHH schmuggelte viele Frauen
Auf unsere Frage, wer ihr denn bei der Flucht geholfen habe, sagt sie: „Im Camp sagte mir eine ‚Schwester‘, es gäbe einen Weg und ich könnte direkt in die Türkei gehen und würde nicht ins Gefängnis kommen. Ich wusste, dass viele Schwestern durch die IHH rausgebracht worden sind und jetzt in der Türkei leben. Es war ein guter Weg und sie kamen gesund und wohlbehalten an. Die IHH bringt die Frauen zuerst nach Cerablus, von dort in die Türkei und dann dorthin, wo sie hinwollen. Das haben mir die Schwestern erzählt. Manche der Frauen, die über die IHH geflohen sind, blieben in der Türkei, andere kehrten in ihre Länder zurück. Ich habe mit der Schmugglerin Ümü Muhammed Turki gesprochen. Sie lebte in Idlib und gehörte zum IS. Sie soll ebenfalls aus al-Hol ausgebrochen sein. Ich habe mit ihr auf Empfehlung der Schwestern Kontakt aufgenommen.
Zweiter Weg über IS-SNA-MIT-Kooperation
Ich sagte ihr ‚Ich möchte auf offiziellem Weg gehen‘ und sie antwortete, das sei in Ordnung. Die IHH brachte sowieso Frauen von hier weg. Ümü Muhammed sagte, dass der Alternativweg ein entspannterer Weg sei.“ Fatma Ridvan entschied sich nicht mit der IHH, sondern direkt über eine Kooperation zwischen IS, SNA und MIT auf einem anderem Weg zu fliehen. Sie erzählt weiter: „Ich wollte nach Cerablus und von dort über die Grenze. Ümü Muhammed Turki sagte mir, ich sollte nach Cerablus gehen und mich dort bei der Verwaltung der ‚FSA‘ melden und mich registrieren lassen. Sie sagte: ‚Geh dahin, lass dich eintragen und geh dann ganz entspannt über die türkische Grenze.‘ Ich bin mir nicht sicher, aber soweit ich das verstanden habe, weiß die Türkei von der Arbeit der IHH. Diejenigen, die mit der IHH gehen, kommen auch nach Cerablus, aber sie müssen dort eine Weile in einem Lager leben und können dann erst in die Türkei einreisen.“
15.000 Dollar für die Flucht
Aus berichtet, dass die IS-Frau für den Schmuggel auf diesem Weg 15.000 Dollar pro Person verlangt und sie dieses Geld von ihrer Familie erhalten habe. Der türkische Geheimdienst sei darüber unterrichtet gewesen. Ümü Muhammed Turki habe sich selbst mit ihren Eltern in Verbindung gesetzt. Aus weiter: „Der türkische Geheimdienst kannte Umü Mohammed gut. Sie sagte auch, der Geheimdienst wisse von allem und der ganze Schmuggel sei geplant. Mein Vater und meine Mutter kamen in die Türkei. Sie erwarteten mich dort. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich in der Türkei bleiben oder nach Russland zurückkehren sollte. Wenn ich nach Russland gegangen wäre, hätte ich das Risiko einer Verhaftung auf mich nehmen müssen. Deshalb könnte ich auch in der Türkei bleiben. Ich habe das auch gegenüber Ümü Muhammed angesprochen. Sie sagte: ‚Breche erstmal auf. Dein Vater wird wissen, was zu tun ist.‘“
IHH – berüchtigt für IS-Unterstützung
Während der Herrschaft des IS über weite Teile Syriens wurden insbesondere Lastwagen der IHH für den Schmuggel von Waffen und Ausrüstung an den IS genutzt. Der von den QSD gefangenen genommene IS-Dschihadist Nevzat Geneli gab an, er habe den flüchtigen Hauptverdächtigen für das Massaker von Pirsûs (türk. Suruç) kennengelernt, als er dem IS in IHH-Fahrzeugen und mit IHH-Weste Hilfsgüter lieferte.