„Türkische Polizei und Militär halfen beim IS-Beitritt“

Ein in Nordsyrien inhaftierter IS-Dschihadist aus der Türkei berichtet im ANF-Interview ausführlich, wie ihm türkische Polizisten und Soldaten beim Grenzübertritt zum „Islamischen Staat“ geholfen haben.

Jeden Tag kommen neue Beweise für die Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Staat und dem IS ans Licht. Neben den zahllosen materiellen Belegen belasten die von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) gefangen genommenen IS-Dschihadisten den türkischen Staat schwer. Einer dieser Dschihadisten ist Nevzat Geneli. Er stammt aus einer konservativen Familie aus Konya in Zentralanatolien. Er sagt, ab 2011 für Hilfsvereine in Konya immer wieder „humanitäre Hilfe“ nach Syrien gebracht zu haben. In dieser Zeit habe er den damaligen IS-Verantwortlichen für die Türkei, Ilhami Bali (alias Abubakir) kennengelernt, der seinen Beitritt zum IS vermittelte. Mit seiner Ehefrau und seinen vier Kindern ging Geneli im Fastenmonat Ramadan nach Syrien, um dem IS beizutreten. Die türkischen Behörden hätten damals seinen IS-Beitritt regelrecht gefördert. Bei Personenkontrollen soll Geneli immer wieder gesagt worden sein: „Wir wissen, wo ihr hingeht. Du bist ein aufrechter Kamerad. Wir würden auch gehen, aber wir haben hier unsere Pflicht dem Vaterland gegenüber.“ Auch türkische Soldaten hätten ihm beim Grenzübertritt geholfen und ihm erklärt, wie er die Grenze passieren und IS-Gebiet erreichen könnte, ohne auf Minen zu treten.

Pendelt immer wieder zwischen Türkei und Syrien

Als wir Geneli nach den Hintergründen seines Beitritts zum IS fragen, gibt er an, im Auftrag zahlreicher Vereine in Konya Hilfsgüter gesammelt und mit den Ladungen einige Male nach Syrien gereist zu sein. Über die „Hilfstransporte“ mit Schwerlastwagen erklärt er: „Wir hatten diese grünen Leuchtwesten der Stiftung IHH, die wir tragen sollten. Das brachten auch Zeitungen mit der Überschrift ‚Die IHH schickt zehn Lastwagen mit Hilfsgütern.‘ Es existieren Fotos von uns vor diesen Lastwagen. Ein Teil davon ist vielleicht auch in der Presse erschienen. So war der Staat damals. Er kannte mich, also meine Struktur. Wir haben die Hilfsgüter mit Lastwagen geliefert und dann über Reyhanlı nach Syrien gebracht.“

„Ilhami Bali trug IHH-Weste“

Nevzat Geneli erwähnt, im Rahmen seiner „Hilfstätigkeit“ eine Person namens Ilhami kennengelernt zu haben, die seinen Beitritt zum IS und seine Reise dorthin organisierte. Als wir ihm ein Bild des hochrangigen IS-Terroristen Ilhamli Bali vorlegen, sagt er: „Ja, das ist die Person. Wir haben die Hilfsgüter mit ihm gemeinsam auf der syrischen Seite von Reyhanlı verteilt. Wir sind nicht nur ein Mal, sondern drei Mal nach Reyhanlı und von dort nach Syrien gereist und wieder zurückgekehrt.“ Bali trat damals als Mitarbeiter der AKP-nahen Hilfsorganisation IHH auf. „Als wir von Konya nach Reyhanlı fuhren, wurden wir von etwa 100 Personen empfangen. Wieder waren Journalisten da und die Menschen bejubelten uns. In dieser Gruppe befand sich auch Ilhami Bali. Ob er IHH-Mitglied war, weiß ich nicht, aber er trug eine IHH-Weste. Ich habe ihn damals in Reyhanlı kennengelernt. Das war Ende 2011.“

„Ich war beim zweiten Mal mit der IHH in Syrien“

Geneli lernte Bali bei seiner zweiten Reise über die IHH nach Syrien näher kennen. Nach der Ausrufung des „IS-Kalifats“ trafen sich beide in Konya. Geneli erinnert sich an das Treffen: „Wir waren in Konya unterwegs, besuchten Wohnungen, um Hilfsgüter zu sammeln und bereiteten ein paar weitere Lastwagen mit Hilfe vor. Ilhami und einige seiner Freunde kamen nach Konya und nahmen die Sachen entgegen. Damals war das Kalifat bereits ausgerufen worden. Das Treffen fand also nach der Rede Baghdadis statt. Ich hatte im Verein Ay-Der zu tun und traf dort auf Ilhami. Wir tranken dann einen Tee. Er hat sich in Konya auch mit anderen getroffen, aber mit wem, weiß ich nicht. Er war einen Tag bei mir. Dann sind sie nach Istanbul gereist. Sie haben sich dort mit irgendwelchen Leuten und Vereinen getroffen. Später kamen sie wieder zurück und nahmen die Hilfsgüter mit.“

„Bali hat mich eingeladen und meinen Grenzübertritt organisiert“

Geneli berichtet, dass Bali ihn in Konya bereits aufgefordert habe, dem IS beizutreten: „Als er bei mir zu Hause war, haben wir uns unterhalten. Er sagte: ‚Bruder komm, der Islamische Staat wurde gegründet. Dort wird nach islamischen Regeln gelebt. Komm du auch nach Syrien.‘ Ich antwortete ihm, dass ich nicht sofort gehen könnte, da ich noch Schulden und Verpflichtungen hatte. Er gab mir eine Nummer. Nachdem ich meine finanziellen Angelegenheiten geregelt hatte, rief ich ihn an. Ich redete mit meiner Frau und wir entschieden zu gehen. So sind wir dann aufgebrochen. Ilhami haben wir danach nicht nochmal persönlich gesehen. Er hat mir am Telefon erklärt, wie ich nach Syrien gelange, und das ganze koordiniert.“

Türkische Polizei: „Wir wollen auch kommen“

Im Jahr 2014, als Geneli dem IS beitrat, habe es eine regelrechte Mobilisierung in der Türkei gegeben, erklärt der Islamist. Türkische Polizisten hätten ihn regelrecht aufgefordert, dem IS beizutreten. „Im Ramadan 2014 brachen wir nach dem Morgengebet mit dem Auto Richtung Antep auf. Meine Ehefrau und meine vier Kinder waren bei mir. Ein Freund, der das Auto zurückbringen sollte, war auch dabei. In Antep stoppte uns die Polizei. Sie haben unsere Ausweise kontrolliert und gefragt, wohin wir reisen. Wir sagten, um nichts preiszugeben, wir führen spazieren. Die Polizisten aber sagten: ‚Willkommen Bruder Hadschi (Pilger). Es ist nicht wichtig, ob du sagst, wo ihr hinfahrt. Wir wissen, wohin ihr wollt. Ihr seid wahre Kameraden. Wir wollen auch kommen, aber wir haben unsere Aufgabe und Pflichten dem Vaterland gegenüber. So Gott will, werden wir auch kommen.‘

So war das damals. Wir wurden regelrecht angestachelt. Es gab dort ein großes Einkaufszentrum an der Einfahrt zur Autobahn. Wir stiegen dort in Taxis ein. Der Freund, der mit uns kam, kehrte mit meinem Auto zurück. Wir sind mit dem Auto eines Händlers an die Grenze gefahren.“

„Türkische Soldaten halfen beim Grenzübertritt“

An der Grenze von Dîlok (Antep) liegt auf syrischer Seite der Ort al-Rai (Çobanbey). Beim Grenzübertritt nach Syrien sollen türkische Soldaten geholfen haben, erklärt Geneli. „Es war nahe der Grenze. Es gab dort einen Militärstützpunkt. Dort standen türkische Panzer und so. Wir passierten den Stützpunkt in etwa 300 Meter Entfernung. Wir waren so etwa 15 Personen. Aber wie ich es gesagt habe, weder Soldaten noch die Polizei behinderten uns. Im Gegenteil, wir haben ihre Hilfsbereitschaft gesehen. Ich hatte drei oder vier Koffer dabei. An der Grenze gibt es einen eineinhalb Meter breiten Graben. Mein jüngstes Kind konnte da nicht rüber. Ein Soldat kam und half uns. Ich habe die Taschen getragen und meine Frau rübergebracht. Der Soldat half meiner Frau auf der anderen Seite hoch und brachte auch mein Kind rüber. So war es. Es gab eine Mobilisierung und wir wurden unterstützt. Niemand hat uns aufgefordert, stehen zu bleiben oder so etwas.“

„Ich nahm Kontakt zum türkischen Geheimdienst auf…“

Laut Geneli wurden er und seine Familie wenige Tage nach seinem Grenzübertritt nach Raqqa geschickt. Nach einer zweimonatigen militärischen und religiösen Ausbildung kehrte er zu seiner Familie zurück. 15 Tage später sei er bei einem Luftangriff des Regimes auf einen Markt in Tabqa verletzt worden. Danach sei er sechs Mal in einem IS-Krankenhaus operiert worden. Er habe sich aber mit der Miliz zerstritten, da er seine Angehörigen nicht als „Ungläubige“ bezeichnen wollte. Geneli berichtet: „Als ich zum IS ging, tat ich das mit großer religiöser Überzeugung. Meine finanzielle Situation war gut. Ich habe mich selbst um meine Behandlung gekümmert. Dennoch wurde sie nicht gut gemacht. Als ich darauf insistierte, in die Türkei zu gehen, dachten sie, ich wolle abhauen, und verweigerten mir die Reise. Vielen anderen Leuten aber steckten sie Geld in die Taschen und schickten sie über die Grenze. Zu dieser Zeit wandten sich mein Schwiegervater und mein Vater an verschiedenste Behörden in der Türkei. Sie schickten mir die Nummer eines Vertreters des türkischen Geheimdiensts beim IS. Sein Name war Özbek Ali. Obwohl ich mehrfach mit ihm sprach, hat er mich weder getroffen noch mich herausgeholt.“

„Wir haben nichts von dem beim IS gefunden, was wir gesucht haben“

Auf die Frage, was er sich unter einem Leben beim IS vorstellte, antwortet Geneli, auf der Suche nach „Brüderlichkeit im islamischen Staat“ nach Syrien gereist, aber bitter enttäuscht worden zu sein. Er erzählt: „Du nimmt an etwas Geplantem und Organisierten teil. Man kennt nur das Bild als außenstehender Betrachter, aber wenn man in dieses Bild hineingeht, kommen ganz andere Dinge heraus. Die Schläge des Pinsels des Malers haben unsere Leben verbrannt. Es ist schön, sich ein Feuer im Kamin anzuschauen. Aber es ist ganz anders, wenn du hineingehst und ein Stück Holz bist, das verzehrt wird. So war es auch bei uns. Die IS-Kommandeure waren unglaublich aufgeblasen. Sie waren absolut mitleidlos. Wir kamen mit dem Traum von Geschwisterlichkeit. Aber ich habe diese weder für mich noch für meine Familie gefunden. Wir wollten gehen, ich war verletzt, meine Ehefrau verließ mich nicht, wir kamen nicht raus. Als uns auch der türkische Geheimdienst nicht half, sind wir geblieben. Sie sagten, wenn wir zu den QSD fliehen, würden sie uns trennen und die Männer umbringen. Aus Angst sind wir geblieben.“

Nevzat Geneli ergab sich am 3. Februar 2019 vor al-Bagouz in Ostsyrien gemeinsam mit seiner Familie den QSD. Seitdem wird er in einem Gefängnis unter Kontrolle der Selbstverwaltung festgehalten, während die Familie in einem Camp für Angehörige von IS-Dschihadisten lebt.

„Der Staat hat uns angestachelt“

Geneli fühlt sich vom türkischen Staat alleingelassen. „Von überall her strömten die Menschen zu Jabhat al-Nusra und dem IS. Sie alle reisten durch die Türkei. Die Türkei war das Pilotgebiet und hat ihre Grenzen sperrangelweit aufgemacht. Täglich reisten 500 bis 1000 Menschen ein. Wusste der Geheimdienst eines so mächtigen Landes wie der Türkei nichts davon? Heute behauptet die Regierung, nichts von ihnen gewusst zu haben und bezeichnet sie als Feinde. Meine Brüder, ihr habt sie genährt, ihr habt das ganze gesät! Wenn eine Polizeieinheit gesagt hätte; ‚Mitbürger, das ist falsch, du weißt nicht, wohin du gehst, bleib hier.‘ Oder wenn sie mich doch gestoppt hätten. Aber nein. Sie sagten, ich sei ein wahrhaftiger Kamerad und sie würden auch kommen, wenn sie könnten, und haben mich so angestachelt. Du gehst an die Grenze und bekommst Hilfe von Soldaten. Sie bringen deinen Koffer und deine Kinder über die Grenze. Sie nehmen sie bei der Hand und mahnen: ‚Geht dort lang, nicht dort, dort liegen Minen. Geht in den Spuren der Ziegen.‘ Der Soldat zeigt dir den richtigen Weg. Ich habe in diesem Land auch meinen Militärdienst abgeleistet. Ein Soldat tut das, was ihm der Staat befiehlt. Der Soldat half allen, die kamen und gingen. Wo ist diese Hilfsbereitschaft heute?“

Wer ist Ilhami Bali?

Ilhami Bali trägt den IS-Codenamen Abu Bakr al-Turki, wurde 1982 in Saudi-Arabien geboren und wuchs in Reyhanli auf. Bevor der IS gegründet wurde, war er Reyhanli-Verantwortlicher der Dschihadistenmiliz Jabhat al-Nusra (Al-Nusra-Front). Mit der Spaltung von al-Nusra schloss er sich der IS-Fraktion an. In der Zeit von 2014 bis 2016 kommandierte Bali eine IS-Einheit namens „Hayat al-Hicra“ und war eine Art „Zollinspektor“ des IS an der Grenze, zuständig für Logistik und Koordination. Seit 2012 wurde er vom türkischen Geheimdienst observiert, außerdem wurde sein Telefon abgehört. Bali gilt als einer der Hauptverdächtigen für die IS-Massaker zwischen dem 7. Juni und dem 1. November 2015. Er ist verantwortlich für die Gefangennahme des türkischen Soldaten Sefter Taş im Dezember 2016. Der Soldat wurde anschließend vom IS bei lebendigem Leibe verbrannt. Bali wurde in Aussagen von gefangenen IS-Dschihadisten schwer belastet. Dennoch soll er sich zwischen dem 27. und 29. Mai 2019 als Gast des MIT in einem Luxushotel in Ankara befunden haben.

Einige IS-Gefangene gaben an, Bali vor dem Fall der letzten IS-Bastion Hajin gesehen zu haben, er später jedoch verschwunden sei. Ein Jahr später soll er nahe Deir ez-Zor als Teil einer IS-Einheit aufgetaucht und beim Versuch in die Türkei zu fliehen, bei einer Bombardierung getötet worden sein. Andere IS-Gefangene berichteten in Gesprächen mit uns, dass Bali immer noch lebt und sie ihn in Idlib oder der Türkei vermuten.