Ilyas Aydin ist kein herkömmliches IS-Mitglied. Er gehörte zur Führungsriege der Organisation. Mitglieder des IS wurden 2014 in Istanbul auf ihn aufmerksam. Dort leitete er eine radikalislamistische Gemeinde, veröffentlichte islamistische Lehrvideos im Internet mit hohen Klickzahlen und organisierte öffentliche Predigten. Sein wachsender Einfluss im islamistischen Milieu war den IS-Funktionären in der Türkei aufgefallen. Um ihn für den IS zu gewinnen, wurde er nach Syrien eingeladen und dort von den Männern von Abu Mohammad al-Adnani, dem damaligen Chef des IS-Geheimdienstes, empfangen. Nach diesem Treffen schwor Aydin dem IS die Treue.
Den Weg vom Treueschwur zum Aufstieg in der Organisation meisterte Aydin schnell, wie er der Nachrichtenagentur Mezopotamya Ajansi mitteilt: „Meine Reise zum IS organisierte ein Mann namens Ilhami Bali. Er war auch dafür verantwortlich, dass verletzte IS-Kämpfer für ihre Behandlung in die Türkei gebracht und anschließend wieder zurückgeschickt wurden. Nicht jeder durfte damals einfach so die Grenze passieren und sich dem IS anschließen. Die Organisation musste vorher informiert werden. In meinem Fall passierte ich die Grenze in Cerablus und wurde dort von den Männern von al-Adnani direkt abgeholt. Das Zentrum von al-Adnani war damals in al-Bab, aber er war verantwortlich für die Gebiete von Aleppo über Minbic bis nach Hama. Wir kamen in seinem Militärstützpunkt zusammen und anschließend schwor ich der Organisation die Treue. Zwei Jahre nach meinem Anschluss kam ich auch mit al-Baghdadi zusammen. Ich wurde zum Verantwortlichen des IS im ideologischen Bereich. Ich wurde zu einer der zentralen Führungspersonen des IS in Syrien."
„Der größte Fehler war Kobanê"
Aydin erklärt, dass die Entscheidung zur Offensive des IS auf Kobanê von einem Kreis aus drei Leuten, dem Imam und zwei Leuten aus dem Schura-Rat der Organisation, getroffen worden ist. Zu dem Zeitpunkt kontrollierte die Organisation bereits Girê Spî (Tall Abyad) und Cerablus. „Die Ankunft neuer IS-Mitglieder, der Transport von Verletzten, die Einfuhr von explosivem und chemischem Material ist komplett über diese Grenzstädte gelaufen. Doch zwischen diesen beiden Orten kontrollierten die kurdischen Kräfte Kobanê. Die Kurden gaben an, dass sie weitere Gebiete in der Region unter ihre Kontrolle bringen wollen. Außerdem war Kobanê nicht weit entfernt zu Raqqa. Aus Sicht der Organisation stellte das eine ernstzunehmende Gefahr dar.“
Im Nachhinein sei klar geworden, dass der Angriff auf Kobanê ein großer Fehler gewesen sei, so Aydin, der wie folgt fortfährt: „Wir haben nie eine Strategie verfolgt, bei der wir die Zahl unserer Feinde zu verringern versuchten. Das war ein strategischer Fehler. Selbst der Prophet hat zu seiner Zeit eine andere Politik verfolgt. Als er nach Medina auswanderte, hat er sich mit den Juden verständigt. Aber unsere Politik verfolgte eine völlig entgegengesetzte Strategie und das war unser erster großer Fehler. Der zweite Fehler war, dass wir durch unsere Hinrichtungsvideos großen Hass und Feindschaft auf uns zogen. Andererseits trug diese Medienstrategie auch dazu bei, dass alle radikalen Kräfte sich uns anschlossen. Doch das war keine nachhaltige Überzeugungsarbeit. Und so zerfiel die Organisation so rasch wie sie auch angewachsen war. Unser größter militärischer Fehler hingegen war die Offensive auf Kobanê. Wir haben dort 3.500 unserer Kämpfer sterben lassen."
„Der Anschlag von Pirsûs wurde vom türkischen Geheimdienst gelenkt"
Aydin erklärt, dass der IS bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keinerlei Probleme an den staatlichen Grenzen hatte. Zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs verfolgten die Türkei und die USA demnach eine Strategie, wonach möglichst viele junge Menschen zum Kämpfen nach Syrien einreisen sollten, um für den Sturz von Assad zu sorgen. Viele dieser Jugendlichen seien Islamisten gewesen und die Türkei habe für sie die Grenzen geöffnet. Später schlossen sich die Jugendlichen dann Stück für Stück dem IS an. Diese Situation habe solange Bestand gehabt, bis es zum Anschlag von Pirsûs (Suruç) kam.
Zu den Hintergründen des Anschlags in Pirsûs, bei dem im Jahr 2015 33 junge Menschen ums Leben gekommen sind, erklärt Aydin folgendes: „Für Anschläge wie in Suruç gab es eine Einheit in der Organisation, die sich um auswärtige Angelegenheiten kümmerte. Die Einheit wurde ‚Alaqatil Xarîciye‘ genannt. Diese Einheit war auch für die Anschläge in Europa verantwortlich. Zunächst wurden die Anschläge aus Raqqa koordiniert. Spätere Anschläge erfolgten dann auch mit der ‚Lone Wolf‘-Strategie. Das heißt bei den Attentätern handelte es sich um Personen, die über keine organisatorische, sondern eine ideologische Bindung zum IS verfügten. Die Einheit für Auswärtiges hatte eine eigene Untergruppe für die Türkei. Diese Untergruppe koordinierte die Anschläge in der Türkei. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass der türkische Geheimdienst diese Gruppe infiltriert hatte. Denn noch bevor die Organisation die ausgesuchten Attentäter für die Türkei aus Syrien entsandte, hatte der türkische Geheimdienst sie auf ihre Listen stehen und fahndete nach ihnen. Einer von ihnen war Abdurrahman Alagöz. Er war für den Anschlag in Suruç verantwortlich. Sein Bruder wiederum war für den Anschlag in Ankara verantwortlich. Ihre Bilder wurden in der Türkei unter den Sicherheitskreisen veröffentlicht, noch bevor sie aus Syrien in die Türkei einreisten. Daraus wird deutlich, dass der Geheimdienst wusste, was in der Untergruppe Türkei besprochen wurde. Der türkische Geheimdienst hat diese Anschläge mit Sicherheit gelenkt. Die Explosion in Suruç ereignete sich nicht auf Befehl von al-Baghdadi. Damals war ein Mann namens Abu Zeynep Rakkavi für diese Einheit verantwortlich. Er hat den Befehl für den Anschlag gegeben.“