Der Journalist Ahmet Kanbal ist vom Vorwurf der Beleidigung des türkischen Innenministers Süleyman Soylu freigesprochen worden. Das Strafgericht in Mêrdîn (tr. Mardin) erkannte bei dem am Donnerstag verhandelten Prozess keine Straftat und sprach den Korrespondenten der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) frei. Kanbal war angeklagt, gegen den umstrittenen Paragrafen 301 verstoßen zu haben, der die „Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates“ verbietet. Bei einer Verurteilung hätten ihm bis zu zwei Jahre Gefängnis gedroht.
Hintergrund der Anklage gegen Kanbal war ein Beitrag auf Twitter mit dem Inhalt: „Die Ratten verlassen immer als erstes das sinkende Schiff.“ Der Journalist hatte den Spruch im April 2020 kurz nach Bekanntwerden eines vermeintlichen Rücktrittsgesuchs des Innenministers getwittert. Soylu war damals wegen einer kurzfristig angekündigten Ausgangssperre angesichts der Corona-Pandemie und dem anschließenden Chaos in dutzenden Städten in die Kritik geraten und hatte daraufhin seinen Rücktritt bekanntgegeben. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nahm das Gesuch nicht an und Soylu blieb im Amt. Die Opposition sprach daraufhin von einem „Schmierentheater im Palast“.
Ziel der Ermittlungen: Unterdrückung der kurdischen Presse
Ahmet Kanbal war damals keine 24 Stunden nach Absetzen des Tweets als Beschuldigter in das Polizeipräsidium in Mêrdîn vorgeladen worden. Die Oberstaatsanwaltschaft fackelte nicht lange und erhob Anklage nach Paragraf 301. Den Vorwurf der Beleidigung Soylus konstruierte die Behörde aus dem Wort „Maus“ – in der türkischen Fassung der Redewendung werden Menschen, die sich bei drohendem Unglück oder ähnlichem zurückziehen, als Mäuse bezeichnet. Vor Gericht wies Kanbal, der von Erdal Kuzu und Fevzi Adsız verteidigt wurde, die Beschuldigungen zurück. „Nicht ich habe eine Straftat begangen, sondern jene, die aus einer Redewendung mit zahlreichen internationalen Versionen ein Delikt konstruiert haben“, sagte der Journalist. „Die Öffentlichkeit weiß, dass meine Arbeit bei gewissen Stellen Verärgerung und Unwillen hervorruft. Es sind jene Kreise, darunter die Polizei, die meine journalistische Tätigkeit auf den Straßen von Mêrdîn einschränken wollen. Da ihnen dies nicht gelingt, verfolgen sie ihre Ziele durch fantasierte Straftaten. Mein inkriminierter Twitter-Beitrag bezog sich auf das Rücktrittsgesuch Soylus, nicht auf seine Person.“
Sache zuvor als einfaches Verfahren erledigt
Kanbals Verteidigung kritisierte die Staatsanwaltschaft für ihre „Beharrlichkeit bei der Zielverfolgung“, da die Sache gegen den Mandanten zuvor als einfaches Verfahren behandelt und mit einem Freispruch erledigt worden war. Dagegen legten sowohl Soylus Anwälte als auch die Staatsanwaltschaft erfolgreich Beschwerde ein. Deshalb musste das Verfahren wieder aufgenommen werden. „Wir fordern Freispruch für Ahmet Kanbal. Es liegt kein einziger Beweis für die Annahme vor, dass der Minister durch die Verwendung des Wortes Maus absichtlich und willentlich beleidigt wurde, wie es hier behauptet wird. Unser Mandat ist freizusprechen.“ Dieser Forderung kam das Gericht nach.
Neues Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung
Kaum war die Verhandlung im Beleidigungsprozess beendet, ließ die Polizei in Mêrdîn durchblicken, ein neues Ermittlungsverfahren gegen Kanbal eröffnet zu haben. Der Vorwurf: Aufstacheln zu Hass und Feindschaft, was der Volksverhetzung entspricht. Bei der polizeilichen Befragung habe sich laut Kanbal ergeben, dass sich die Ermittlungen auf diverse Artikel und Beiträge im Netz stützen. Dabei gehe es unter anderem um Inhalte mit Bezug auf die kolonialherrschaftliche Praxis der Zwangsverwaltung in kurdischen Städten sowie um Opfer der türkischen Staatsgewalt, etwa Ceylan Önkol, Hacı Lokman Birlik und Ali al-Hamdan. Kanbal spricht mit Blick auf den kriminalisierenden Ermittlungseifer der Polizei in Mêrdîn von einer Systematik, um die unabhängig berichtende Presse in Kurdistan auszuschalten. Dagegen werde er sich auch weiter zur Wehr setzen, erklärte der Journalist.