Journalist Ahmet Kanbal zu Haftstrafe verurteilt

Der MA-Korrespondent Ahmet Kanbal ist in Aydin zu einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr verurteilt worden. Das Verfahren wurde von dem berüchtigten Jandarma-Kommandeur Musa Çitil angestrengt.

Der Journalist Ahmet Kanbal ist im westtürkischen Aydin zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden. Dem Korrespondenten der Nachrichtenagentur Mezopotamya Ajansı (MA) wird die „Benennung von Akteuren im Kampf gegen den Terror” zur Last gelegt. Hintergrund ist ein Tweet mit einem Zitat der Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, das Kanbal auf Twitter geteilt hat. Das Verfahren wurde von dem berüchtigten Jandarma-Kommandeur Musa Çitil angestrengt, der in dem Tweet benannt wird.

Ahmet Kanbal und sein Verteidiger Erdal Kuzu nahmen über eine Videoschaltung aus Mêrdîn (tr. Mardin) an der Verhandlung vor dem Strafgericht Aydin teil. Kanbal führte zu seiner Verteidigung an, dass er im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit agiert und Çitil aufgrund seiner Funktion als stellvertretender Generalkommandeur öffentlich bekannt ist: „Sein Lebenslauf steht auf der offiziellen Internetseite der Generalkommandantur der Jandarma. Er ist in der Vergangenheit wegen Vergewaltigungen und Morden in Mardin angeklagt worden, darüber wurde in den Medien breit berichtet. Vor den lokalen Gerichten wurde er zwar freigesprochen, in den Urteilen des europäischen Menschenrechtsgerichtshof wurde er jedoch schuldig gesprochen.“

Kanbal wies darauf hin, dass in Amed (tr. Diyarbakir) sieben aus ähnlichen Gründen angeklagte Journalist:innen freigesprochen wurden und beantragte ebenfalls einen Freispruch.

Das Gericht folgte dieser Argumentation in der Urteilsbegründung nicht und stellte darüber hinaus fest, dass die Vollstreckung der Strafe aufgrund der Persönlichkeit Kanbals und bestehender Wiederholungsgefahr nicht ausgesetzt werden kann. Kanbals Verteidiger Erdal Kuzu kündigte Rechtsmittel gegen das Urteil an.

Im Fadenkreuz der türkischen Justiz

Ahmet Kanbal steht seit Jahren im Fadenkreuz der türkischen Justiz. In etlichen Verfahren musste sich der Reporter wegen vermeintlicher Terrorpropaganda verantworten, etwa wegen Berichten über Korruption und Klientelismus in den zwangsverwalteten Rathäusern in kurdischen Städten oder zu Artikeln im Zusammenhang mit dem türkischen Angriffskrieg gegen den ehemals selbstverwalteten Kanton Efrîn in Nordsyrien 2018. Vor zwei Jahren stand Kanbal unter dem umstrittenen Paragrafen 301, der die „Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates“ verbietet, unter Anklage.

Musa Orhan und Musa Çitil: Vergewaltiger im Dienste des Staates

Der Name von Generalleutnant Musa Çitil hat sich spätestens in den frühen 1990er Jahren durch Massaker, Folterungen und Vergewaltigungen in das kollektive Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft eingebrannt. Mehrfach wurde ihm vorgeworfen, Kurdinnen und Kurden, die er in Untersuchungshaft nahm, sexuell missbraucht, gefoltert oder getötet zu haben. Die türkische Justiz sprach ihn jedes Mal frei - und der Staat beförderte ihn.Als mit dem Suizid der 18-jährigen Kurdin Ipek Er aus Êlih (Batman) im vergangenen Jahr mit Musa Orhan der Name eines anderen Vergewaltigers in den Reihen der türkischen Armee in die Öffentlichkeit gelangte, war die Empörung groß. Auch deshalb, weil der Unteroffizier der Jandarma (Militärpolizei) seit Bekanntwerden der Tat von der türkischen Justiz geschützt wird und sich nach wie vor auf freiem Fuß befindet.

Die renommierte Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, die zugleich Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD ist, hatte mit Blick auf den staatlichen Umgang mit Musa Orhan in einem Interview mit Artı Gerçek Parallelen zur Straffreiheit für Musa Çitil gezogen. „Jahre zuvor gab es vor Musa Orhan einen anderen Musa, nämlich Musa Çitil. In den 90ern war er Kommandant in Mardin. Wegen der Vergewaltigung an Ş.E. wurde er zwar angeklagt, aber freigesprochen. Jahre später tauchte er in Diyarbakir als Kommandant von Sur auf.“ Wegen dieser Äußerung verklagte Çitil sowohl Eren Keskin als auch die Journalistin Yağmur Kaya, die das Interview führte, sowie Ahmet Kanbal. Dieser hatte Keskins Worte in einem Beitrag auf Twitter im Zusammenhang mit Süleyman Soylu zitiert. Der türkische Innenminister hatte sich damals öffentlich über die HDP beschwert, weil diese das Schicksal von Ipek Er „hochkochen“ würde und ihre Forderung nach der Verhaftung von Musa Orhan auf der Tagesordnung hielte, „um von ihren eigenen Verbrechen abzulenken“.

Verantwortlich für Hinrichtung von Zivilisten

Musa Çitil war zwischen 1984 und 2000 als Regionalkommandant der Jandarma fast durchgehend in Kurdistan stationiert, unter anderem in Wan, Amed und Dersim. In Dêrika Çiyayê Mazî bei Mêrdîn hatte Çitil in den Jahren 1993 und 1994 die Hinrichtung von 13 Zivilist:innen zu verantworten. Ebenfalls 1993 vergewaltigte er die damals 16-jährige Şükran Aydın, die am 29. Juni nach einem Überfall auf ihr Dorf Taşkın festgenommen wurde. Im November desselben Jahres wurde in Dêrika Çiyayê Mazî die damals 21-jährige Şükran Esen in Untersuchungshaft genommen. Nach ihrer Freilassung ging sie ins Ausland und erzählte jahrelang nichts von ihrem Erlebten. Als sie ihr Schweigen nicht mehr ertragen konnte, suchte sie bei der Rechtsanwältin Eren Keskin Hilfe und berichtete von mehreren Vergewaltigungen in Untersuchungshaft. Keskin strengte daraufhin gegen 405 Soldaten einen Prozess wegen Vergewaltigung an. In beiden Prozessen wurde Musa Çitil von der türkischen Justiz freigesprochen. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dagegen wurde Ankara sowohl wegen den Vergewaltigungsfällen Çitils als auch anderen Verbrechen an Kurdinnen und Kurden mehrmals verurteilt.