Elfeinhalb Jahre nach dem Tod der zwölfjährigen Ceylan Önkol hat ein regionales Verwaltungsgericht in Amed (tr. Diyarbakir) befunden, dass die Schuld beim türkischen Innenministerium als Aufsichtsbehörde der Gendarmerie (Militärpolizei) liegt. Das kurdische Mädchen war am 28. September 2009 im Kreis Licê von einer Artilleriegranate zerfetzt worden, die aus einer Wache der Militärpolizei abgefeuert wurde. Den Eltern sprach das Gericht materiellen als auch immateriellen Schadenersatz in Höhe von 283.000 TL (umgerechnet etwa 31.000 Euro) zu. Bei seiner Urteilsfindung hielt sich das Gericht allerdings an ein umstrittenes Expertengutachten.
Die 1997 geborene Schülerin Ceylan Önkol hatte sich am Tag ihres Todes im Weiler Xambak aufgehalten, ganz in der Nähe ihres Elternhauses im Dorf Xiraba (Şenlik). Dort ließ sie auf einem Hügel Schafe und Ziegen weiden. Am Vormittag hörten mehrere Anwohnende zunächst ein Geräusch in Form von Brummen und Zischen. Dann folgten im Abstand von wenigen Sekunden zwei Explosionen. Herbeigeeilte Menschen fanden Ceylan tot auf einer Wiese vor und verständigten die Gendarmerie. Zu einer unverzüglichen Untersuchung kam es nicht, da es dem zuständigen Staatsanwalt aus „Sicherheitsgründen” erst drei Tage später möglich gewesen sei, den Tatort zu betreten.
Gerichtsmediziner widerspricht offizieller Version
Die Autopsie des zerfetzten Leichnams von Ceylan Önkol – ihre Mutter Saliha hatte einige der Körperteile von Baumästen und angrenzenden Wiesen aufsammeln müssen – wurde in der Gendarmerie-Wache durch einen praktischen Arzt aus Licê durchgeführt. Im Bericht wurde vermerkt, dass der Bauchbereich des Mädchens zerfetzt war und innere Organe sich außerhalb des Körpers befanden. Die Waffenexperten, die von der Staatsanwaltschaft benannt worden waren, stellten im Ergebnis fest, dass Ceylan Önkol infolge der Detonation von Munition eines Granatwerfers Kaliber 40mm getötet wurde. Dieses Kaliber ist die Standardgröße der NATO, also auch die der türkischen Landstreitkräfte. In der Türkei verfügt nur die Armee über solche Waffen.
Experten: Schuld hat das Opfer
Laut dem Gutachten der Waffenexperten sei die Munition auf das Grundstück geschleudert worden, ohne zu explodieren. Erst als das Opfer mit einer Sichel darauf geschlagen habe, sei die Detonation ausgelöst worden. Der renommierte Gerichtsmediziner Prof. Dr. Ümit Biçer widersprach dieser Version und stellte in einem Gutachten vom 12. August 2010 fest, dass der Tod von Ceylan durch das Zerfetzen innerer Organe infolge der Druckwelle einer Explosion eintrat. Bei einer Gesamtschau der Läsionen am Körper des Mädchens und der Auswertung der Tatortfotografien sei davon auszugehen, dass die Explosion – ohne Einwirkung einer Person – am Boden oder in Bodennähe erfolgt ist. Biçer hielt es für ausgeschlossen, dass das Opfer einen Sprengkörper in Händen gehalten habe oder mit einem Gegenstand darauf geschlagen hat. Ceylans Hände, Füße und Arme wiesen kaum nennenswerte Verletzungen auf.
Urteil auf Grundlage von umstrittenen Gutachten
Das Verwaltungsgericht in Amed traf seine Entscheidung allerdings auf Grundlage des umstrittenen Gutachten der staatsanwaltlich eingesetzten Waffenexperten. „Das Vorhandensein von nicht explodierter Munition in der Nähe eines bewohnten Siedlungsgebiets zeigt, dass die vom beklagten Ministerium erbrachten Sicherheitspflichten nicht erfüllt worden sind. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass beim beklagten Ministerium eine Pflichtverletzung durch unsachgemäße Handhabung vorliegt.” Das Gericht sieht aber nur eine 90-prozentige Schuld bei der Militärpolizei, weil Ceylan Önkol die Detoniation durch einen Schlag auf den angeblichen Blindgänger selbst verursacht haben soll.
Mörder von Ceylan frei
Wegen dem Mord an dem Mädchen ist in der Türkei bisher niemand zur Rechenschaft gezogen worden, der Täter gilt weiterhin als „unbekannt”. Ein Gericht in Amed hatte den Eltern schon vor Jahren Schmerzensgeld zugesprochen, doch sie weigerten sich, es anzunehmen. Das entsprechende Urteil wurde 2019 vom Staatsrat, einem der obersten Gerichte in der Türkei, das in seiner Funktion imit dem deutschen Bundesverwaltungsgericht vergleichbar ist, schließlich aufgehoben und zur Neuverhandlung an die vorherige Instanz zurückverwiesen. Begründet worden war die Entscheidung damit, dass es in den Jahren vor dem Tod von Ceylan Önkol in Xambak laut dem Generalstab mindestens vier Mal zu Gefechten zwischen dem Militär und der Guerilla gekommen sei. Die Behörden hätten es aber versäumt, die „mit Munition kontaminierten” Flächen zu sichern.