Mörder von Ceylan Önkol seit elf Jahren „unbekannt”

Am 28. September 2009 zerfetzte eine vom türkischen Militär abgefeuerte Artilleriegranate in Licê die damals zwölfjährige Ceylan Önkol. Inzwischen sind elf Jahre vergangen, doch der Tod des kurdischen Mädchens ist noch immer ungesühnt.

Ceylan Önkol war erst zwölf Jahre alt, als ihr zierlicher Körper am 28. September 2009 von einer Artilleriegranate zerfetzt wurde, die vom türkischen Militär abgefeuert worden war. Die Grundschülerin hatte sich am Tag ihres gewaltsamen Todes im Weiler Xambak aufgehalten, ganz in der Nähe ihres Elternhauses im Dorf Xiraba (türk. Şenlik), einer Ortschaft in der nordkurdischen Widerstandshochburg Licê. Auf einem Hügel ließ sie Schafe und Ziegen weiden. Am Vormittag hörten mehrere Bewohner*innen von Xiraba zunächst ein Geräusch in Form von Brummen und Zischen. Dann folgten im Abstand von wenigen Sekunden zwei Explosionen. Zum Ort des Geschehens geeilte Zeug*innen fanden Ceylan tot auf einer Wiese vor und verständigten die Militärpolizei (Jandarma). Doch zu einer unverzüglichen Untersuchung kam es aber nicht: Aus „Sicherheitsgründen” sei es dem zuständigen Staatsanwalt erst drei Tage nach dem Tod des Mädchens möglich gewesen, den Tatort zu betreten.

Gerichtsmediziner widerspricht offizieller Version

Die Autopsie des zerfetzten Leichnams von Ceylan Önkol – ihre Mutter Saliha hatte einige der Körperteile von Baumästen und angrenzenden Wiesen aufsammeln müssen – wurde in der Wache der Militärpolizei durch einen praktischen Arzt aus Licê durchgeführt. Im Bericht wurde vermerkt, dass der Bauchbereich des Mädchens zerfetzt war und innere Organe sich außerhalb des Körpers befanden. Die Waffenexperten, die von der Staatsanwaltschaft benannt worden waren, stellten im Ergebnis fest, dass Ceylan Önkol infolge der Detonation von Munition eines Granatwerfers Kaliber 40mm getötet wurde. Dieses Kaliber ist die Standardgröße der NATO, also auch die der türkischen Landstreitkräfte. In der Türkei verfügt nur die Armee über solche Waffen.

„Experten“: Schuld hat das Opfer

Ohne weitere Beweismittel behaupten die Waffenexperten, die Munition sei auf das Grundstück geschleudert worden, ohne zu explodieren, und sei erst detoniert, als das Opfer mit einer Sichel darauf geschlagen habe. Der renommierte Gerichtsmediziner Prof. Dr. Ümit Biçer widersprach dieser Version und stellte in seinem Gutachten vom 12. August 2010 fest, dass der Tod von Ceylan durch das Zerfetzen innerer Organe infolge der Druckwelle einer Explosion eintrat. Bei einer Gesamtschau der Läsionen am Körper des Mädchens und der Auswertung der Tatortfotografien sei davon auszugehen, dass die Explosion – ohne Einwirkung einer Person – am Boden oder in Bodennähe erfolgt ist. Er hielt es für ausgeschlossen, dass das Opfer einen Sprengkörper in Händen gehalten habe oder mit einem Gegenstand darauf geschlagen hat. Ihre Hände, Füße und Arme wiesen kaum nennenswerte Verletzungen auf.

Türkischer Militärstützpunkt gegenüber vom Tatort

Für die Theorie eines durch unsachgemäße Handhabung zur Entzündung gebrachten „Blindgängers“ gab es ohnehin keinen sachlichen Grund. Mehrere Bewohner*innen von Xiraba hatten ein Abschuss- oder Fluggeräusch gehört und dann ganz zeitnah eine Explosion. Die Spekulation über die Ursache der Explosion diente also nur als Schutzbehauptung der Entlastung staatlichen türkischen Handelns. Gegenüber dem Tatort befindet sich zudem in guter Sichtlinie der Militärstützpunkt Tabantepe.

EGMR: Keine Verletzung des Rechts auf Leben

Der türkische Staat hat niemanden wegen des Mordes an Ceylan Önkol zur Rechenschaft gezogen. Ihr Tod wird noch immer als sogenannter „Mord unbekannter Täter” gelistet. Ein regionales Verwaltungsgericht in Amed hatte den Eltern lediglich Schmerzensgeld zugesprochen, doch sie weigerten sich, es anzunehmen. Als 2010 die Rechtswege in der Türkei ausgeschöpft waren, zogen Saliha und Raif Önkol vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sieben Jahre später wiesen die Straßburger Richter*innen die Klage der Eltern ab: Es sei keine Verletzung des Rechts auf Leben festzustellen, hieß es in dem Urteil.

Mutter von Ceylan inzwischen ein Pflegefall

Saliha Önkol ist seit dem Tod ihrer Tochter Ceylan eine niedergeschlagene Frau. Ihr Sohn Rıfat hatte letztes Jahr bei einer Gedenkveranstaltung zum zehnten Todestag des Mädchens mit den großen Kulleraugen gesagt: „Sie konnte sich von dem Moment, als sie die Körperteile von Ceylan aufsammeln musste, nicht erholen. Seit Jahren vegetiert sie nur noch dahin. Im Grunde ist sie im Innersten völlig ausgebrannt.“ Mittlerweile ist Saliha Önkol ein bettlägeriger Pflegefall.

Ceylan im Schoß ihrer Mutter, Zeichnung von Serpil Odabaşı