Die Generalstaatsanwaltschaft in der nordkurdischen Stadt Gever (tr. Yüksekova) hat Anklage gegen die Journalistin Rabia Önver erhoben. Der Korrespondentin der feministischen Nachrichtenagentur JinNews wird im Zusammenhang mit Beiträgen in Online-Netzwerken zum Vorwurf gemacht, Propaganda für eine „terroristische Organisation“ – gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – betrieben zu haben.
Grundlage der Beschuldigungen sind nach Angaben von Önver diverse Einträge in ihrem Profil beim Kurznachrichtendienst Twitter, die sich inhaltlich mit Verbrechen an Kurdinnen und Kurden auseinandersetzen. Bei einer polizeilichen Vernehmung durch das Dezernat für Terrorbekämpfung der türkischen Polizei bezüglich des Ermittlungsverfahrens sei sie unter anderem zu Tweets über die politischen Morde an den kurdischen Revolutionärinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez 2013 durch einen MIT-Killer in Paris befragt worden.
Als „kriminell“ eingestuft worden seien auch Beiträge über das Massaker von Roboskî, bei dem Ende 2011 insgesamt 34 Zivilisten von der türkischen Luftwaffe getötet wurden, sowie über den Mord am Menschenrechtsanwalt Tahir Elçi 2015 in der Altstadt von Amed (Diyarbakır). Zur Begründung der strafrechtlichen Verfolgung sei laut Önver hauptsächlich herangezogen worden, dass in geteilten Videos Personen mit Stofftüchern in den „verbotenen Farben“ grün, rot und gelb zu sehen wären. Die Fragen hätten sich um den Ort der abgesetzten Tweets und „das Ziel dahinter“ gedreht.
Die Anklageschrift gegen Rabia Önver wurde bei der 1. Großen Strafkammer in Wan eingereicht, da sie sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichungen dort aufgehalten haben soll. Für einen Prozesstermin muss die Anklage formell noch angenommen werden.
Wiederaufnahmeverfahren gegen Hikmet Tunç
Ebenfalls in Wan, allerdings vor einer Strafkammer des Landgerichts im Kreis Bêgirî (Muradiye), wird aktuell gegen die ebenfalls für JinNews arbeitende Journalistin Hikmet Tunç verhandelt. In dem Wiederaufnahmeverfahren geht es um den Vorwurf der Verunglimpfung eines Zwangsverwalters. Grundlage des Verfahrens war eine Anzeige des in Bêgirî anstelle der abgesetzten Ko-Bürgermeister:innen der HDP ernannten Treuhänders Harun Yücel. Dieser fühlte sich durch einen Artikel von Tunç „medial diffamiert und gebrandmarkt”.
Hikmet Tunç © privat
In dem inkriminierten Bericht, der am 13. Mai 2019 unter dem Titel „Nach der Zerstörung die Flucht“ bei JinNews erschien, ging es um zwei Ausschreibungen im August 2018 über die Landschaftsgestaltung an dem Bêgirî-Wasserfall. Insgesamt 4,5 Millionen TL seien damals an zwei dubiose Firmen geflossen, die den Zuschlag erhielten, die Region am Wasserfall in ein Erholungsgebiet zu verwandeln. Doch die Unternehmen verschwanden, ohne die Projekte beendet zu haben. Die Gelder waren allerdings im Vorfeld vollständig ausgeschüttet worden.
Zu insgesamt acht Monaten und 22 Tagen Bewährungsstrafe war Hikmet Tunç im August vergangenen Jahres aufgrund ihrer Berichterstattung – die sich auf einen Report der HDP bezog – verurteilt worden. Gegen die summarisch getroffene Schuldfeststellung ging ihr Rechtsbeistand erfolgreich in Berufung und bewirkte, dass der vom Gericht der ersten Instanz entschiedene Fall nochmals neu aufgerollt wird. Am Freitag wurde Tunç richterlich befragt. Wann der Prozess fortgesetzt wird, ist noch unklar.