Wieder Gewalt und Festnahmen bei „Gerechtigkeitswache“

Es gleicht schon einem Ritual, wie die Istanbuler Polizei Woche um Woche die „Gerechtigkeitswache“ von Angehörigen kranker Gefangener unterdrückt, um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit über die Situation in den Gefängnissen informiert wird.

Es gleicht schon einem Ritual, wie die Istanbuler Polizei Woche um Woche die „Gerechtigkeitswache“ von Angehörigen kranker Gefangener unterdrückt, um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit über die Situation in den Gefängnissen informiert wird. Seit 28 Wochen geht die Initiative in der Bosporus-Metropole auf die Straße, um ihr Anliegen sichtbar zu machen und ihm Gehör zu verschaffen: Die Freilassung schwer Erkrankter und wegen fehlendem Reuebekenntnis trotz Vollendung ihrer Strafen weiterhin Inhaftierter.

Nahezu jede Kundgebung der Gruppe, die sich überwiegend aus Müttern zusammensetzt, die um das Leben ihrer inhaftierten Kinder kämpfen, wurde seit Beginn der Aktion im vergangenen März von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Auch an diesem Sonnabend gingen Sicherheitskräfte wieder gegen Gefangenenangehörige vor, mindestens neun Personen wurden festgenommen. Unter ihnen befinden sich auch Evin Genç, Ko-Vorsitzende von Anyakay-Der, einem Solidaritätsverein von Familien Gefallener und Vermisster in Zentralanatolien, sowie Zeynep Calıhan, Kumri Akgül und Cemile Çiftçi, Mütter von politischen Gefangenen. Auch Pressevertreter:innen wurden zum wiederholten Mal von der Polizei drangsaliert. Betroffen davon waren die Journalist:innen Zeynep Kuray (ANF), Rukiye Adıgüzel (MA), Hayri Tunç (Fersude) und Meral Danyıldız (Artı TV).


Tod im Gefängnis: Staatlicher Mord

„Wir wurden wieder Zeuge davon, dass die Schlägertrupps des Regimes auf barbarische Weise gegen friedliche Menschen vorgehen, die von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen und die lebensbedrohliche Situation kranker Gefangener anklagen“, kritisierte der HDP-Abgeordnete Musa Piroğlu die gewaltsame Auflösung der Kundgebung durch die Polizei. „Dieser Staat überlässt kranke Inhaftierte dem sicheren Tod. Dutzende Gefangene sind seit Jahresbeginn hinter Gittern ums Leben gekommen. Dahinter gibt es ein ganzes System von Unterdrückung und Entrechtung, die faktisch auf staatliche Morde hinauslaufen“, sagte Piroğlu. Dass dieses Handeln des Regimes unter allen Umständen nicht bloßgestellt und öffentlich angeprangert wird, passe ins Schema des türkischen Feindstrafrechts, so der Abgeordnete.

IHD: 650 schwerkranke Gefangene

Nach Erkenntnissen des Menschenrechtsvereins (IHD) befinden sich über 1.500 Kranke in den Gefängnissen der Türkei, um die 650 von ihnen sind schwer krank. In allen Fällen handelt es sich um sogenannte Gewissensgefangene – Personen, die wegen ihrer politischen und weltanschaulichen Ansichten inhaftiert worden sind. Nur äußerst selten kommt es zu Freilassungen, obwohl die Türkei die „Europäischen Gefängnisregeln“ ratifiziert hat. Weil das dem Justizministerium unterstellte Institut für Rechtsmedizin (ATK) vielen kranken Gefangenen die Haftfähigkeit bescheinigt, ereignen sich immer wieder Todesfälle. 2022 sind bereits etwa 50 Gefangene ums Leben gekommen. Laut dem IHD seien all diese Fälle vermeidbar gewesen, wenn sie rechtzeitig entlassen worden wären und eine ununterbrochene Behandlung genossen hätten.

Willkürliche Fortsetzung der Haft wegen fehlender Reue für „Straftaten“

In türkischen Gefängnissen sitzen zudem zahlreiche Personen ein, deren reguläre Haftdauer längst abgelaufen ist aber dennoch nicht freigelassen werden. Bei diesen Gefangenen handelt es sich nach dem Antiterrorgesetz verurteilte Kurdinnen und Kurden, häufig sind es „Lebenslängliche“, die 30-jährige Haftstrafen abgesessen haben. Unter dem Vorwand, sie würden die rechtswidrige Auferlegung von „Reue für ihre Straftaten“ nicht akzeptieren, werden sie willkürlich ihrem Recht auf Freiheit beraubt.