UN: EU und Libyen verantwortlich für Tod im Mittelmeer

Ein UN-Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass Libyen und die EU durch unbeantwortete Notrufe, Behinderung humanitärer Rettungsaktionen und Zurückschieben eine Mitschuld am Tod hunderter Schutzsuchender im Mittelmeer haben.

Was NGOs schon lange festgestellt haben, belegt nun auch ein Bericht des UN-Menschenrechtsbüros: Die EU und Libyen sind verantwortlich für das Sterben im Mittelmeer. Das Menschenrechtsbüro wirft der EU und Libyen vor, es versäumt zu haben, dem Leben, der Sicherheit und den Menschenrechten von Personen, die versuchen, von Afrika nach Europa zu gelangen, Priorität einzuräumen.

Folge konkreter politischer Entscheidungen“

Der 37-seitige Bericht mit dem Titel „Lethal Disregard“ (Tödliche Missachtung) stellt fest, dass Fälle von Missachtung des Schutzes der Menschenrechte keine tragischen Anomalien sind, sondern vielmehr Folgen „konkreter politischer Entscheidungen und Praktiken der libyschen Behörden, der Mitgliedsstaaten und Institutionen der Europäischen Union sowie anderer Akteure“.

Menschen ertrinken, weil Hilfe zu spät oder gar nicht kommt“

„Jedes Jahr ertrinken Menschen, weil die Hilfe zu spät oder gar nicht kommt“, sagte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, bei der Vorstellung des Berichts. Der Bericht beschreibt, wie die EU-Mitgliedsstaaten ihre Seenotrettungseinsätze eingeschränkt haben und gleichzeitig humanitäre Organisationen an der Durchführung von Rettungsaktionen hindern. Private Schiffe vermeiden es zunehmend, Schutzsuchenden in Not zu helfen, da ihnen dann oft monatelang das Anlanden verweigert wird. „Die wahre Tragödie ist, dass so viel des Leids und des Todes entlang der zentralen Mittelmeerroute vermeidbar wäre“, sagte Bachelet und forderte Tripolis und Brüssel auf, ihre SAR-Politik dringend zu reformieren.

Diese Leute haben keine Menschlichkeit. Es ist ihnen egal, ob du lebst oder stirbst"

Eine Frau aus Somalia berichtete über ihre Erfahrungen mit der von der EU hochgerüsteten und ausgebildeten sogenannten libyschen Küstenwache (LCG): „Ein [LCG]-Boot näherte sich uns, sie fuhren schnell und manövrierten um unser Gummiboot herum. Dann ließen sie ein Seil fallen und befahlen uns, auf ihr Boot zu klettern (. . .) Aufgrund der Manöver und der Geschwindigkeit des libyschen Bootes fielen mindestens drei Migranten ins Wasser, aber das libysche Boot fuhr weg und beachtete unsere Schreie nicht. Die Männer starben (. . .), sie ertranken (. . .), ihre Freunde weinten und baten um Hilfe, aber [die LCG] kümmerte das nicht. Sie fuhren weiter und brachten uns nach al-Khoms, um uns zu verhaften.“ Ein Überlebender einer weiteren „Rettungsaktion“ der libyschen Küstenwache erklärte: „Diese Leute [die LCG] haben keine Menschlichkeit. Es ist ihnen egal, ob du lebst oder stirbst.“

Bachelet: „Libyen kein sicherer Hafen“

„Diejenigen, die gerettet werden …, werden nach Libyen zurückgebracht, ein Land, das, wie bei unzähligen Gelegenheiten betont wurde, kein sicherer Hafen ist“, sagte Bachelet bei der Bekanntgabe des Berichts. Im Jahr 2020 wurden mindestens 10.352 Schutzsuchende von der libyschen Küstenwache abgefangen und nach Libyen zurückgebracht. Im Jahr 2019 lag die Zahl nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR bei 8.403. Der Bericht beschreibt die schweren und grausamen Misshandlungen, denen Schutzsuchende ausgesetzt sind, wenn sie nach Libyen zurückgebracht werden. In dem Bericht wird ein Schutzsuchender aus Bangladesch zitiert: „Sie müssen verstehen, dass Libyen furchtbar ist – keine Worte können unser Leiden dort erklären (. . .) Die Situation dort ist so unsicher, dass man sein Leben im Wasser riskieren muss.“

UN-Bericht: Sichere Migrationswege notwendig

Bachelet erklärte: „Niemand sollte sich gezwungen fühlen, sein Leben oder das seiner Familie auf der Suche nach Sicherheit und Würde auf seeuntüchtigen Booten zu riskieren. Aber die Antwort kann nicht einfach darin bestehen, Ausreisen aus Libyen zu verhindern oder die Reisen noch verzweifelter und gefährlicher zu machen. Solange es keine ausreichend sicheren, zugänglichen und regulären Migrationswege gibt, werden die Menschen weiterhin versuchen, das zentrale Mittelmeer zu überqueren, unabhängig von den Gefahren und Konsequenzen.“