Abhörprotokolle: Schutzsuchende wurden dem Tod überlassen

In einer Exklusivreportage veröffentlicht der Guardian Auszüge aus Abhörprotokollen zwischen der sogenannten libyschen Küstenwache und der italienische Marine. Sie zeigen die Gleichgültigkeit beider Seiten dem Sterben im Mittelmeer gegenüber.

Den Guardian erreichten 30.000 Seiten Abhörprotokolle aus der Kommunikation zwischen der sogenannten libyschen Küstenwache und der italienischen Marine. Die Abhörprotokolle bei der libyschen Küstenwache wurden von der italienischen Staatsanwaltschaft im Rahmen von Ermittlungen gegen Seenotrettungsorganisationen produziert. Die italienische Staatsanwaltschaft versucht, diese Organisationen wegen angeblicher Zusammenarbeit mit „Schleppern“ zu kriminalisieren. Die Aufnahmen zeigen aber etwas anderes. Nämlich dass die libysche Küstenwache weder bereit noch in der Lage ist, Schutzsuchende zu retten und die EU dem weitgehend gleichgültig gegenübersteht.

126 Tote offenbar wegen „Feiertag“

Eines der vom Guardian angeführten Telefongespräche ereignete sich am 16. Juni 2017. Damals erhielt Col. Massoud Abdalsamad von der libyschen Küstenwache einen Anruf von einem Beamten der italienischen Küstenwache, der ihm mitteilte, dass sich zehn Schlauchboote mit Schutzsuchenden in akuter Seenot befänden. Viele von ihnen schwämmen in libyschen Hoheitsgewässern. Abdalsamad antwortete: „Heute ist frei. Es ist ein Feiertag. Aber ich kann versuchen, zu helfen. Vielleicht können wir morgen dort sein.“ Später am Tag behauptete Abdalsamad, seine Männer hätten viele der Schutzsuchenden gerettet. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren bis zum Ende des Wochenendes 126 Menschen gestorben.

Im Februar 2017 hatte die EU die Verantwortung für die Überwachung der Rettungsaktionen im Mittelmeer an Libyen als Teil einer Vereinbarung zwischen Italien und Libyen abgetreten. So sollten Schutzsuchende daran gehindert werden, die EU zu erreichen.

Küstenwache nicht erreichbar – 146 tote Männer Frauen und Kinder

Zwischen dem 22. und 27. März 2017 baten Hunderte von Menschen, die von Sabratha in Libyen aufgebrochen waren, die italienische Seenotrettungsleitstelle um Hilfe. Aus den Protokollen geht hervor, dass italienische Beamte mehrmals versuchten, Abdalsamad und mindestens zwei weitere Beamte der libyschen Küstenwache zu kontaktieren, aber immer wieder war das „Ergebnis negativ“. Die italienischen Behörden verloren schließlich den Kontakt zu den Booten. Am 29. März bestätigte das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) den Tod von 146 Menschen, darunter Kinder und viele schwangere Frauen.

55 vergebliche Anrufe – 33 Tote

Am 24. Mai 2017 leckten zwei Boote mit Hunderten von Menschen an Bord vor der libyschen Küste. Eines von ihnen kenterte. Die Schiffbrüchigen kontaktierten die italienische Küstenwache, die Abdalsamad 55 Mal anrief, ohne eine Antwort zu erhalten. Dreiunddreißig Menschen starben laut UNHCR.

Riccardo Gatti, Missionsleiter der spanischen Seenotrettungs-NGO Proactiva Open Arms, bestätigt, es sei „fast immer unmöglich“, die Libyer zu kontaktieren, und dass die Telefonnummern der Küstenwache oft nicht funktionieren oder nicht existieren. Francesco Creazzo, ein Sprecher des Seenotrettungs-NGO SOS Méditerranée, sagte, die libyschen Behörden seien „meist nicht erreichbar, egal an welchem Wochentag“.

„Die Verzögerungen bei der Kommunikation auf See und die fehlende Kapazität zur Koordinierung durch das libysche JRCC [Joint Rescue Coordination Centre] gefährden weiter das Leben der Menschen und haben einen inakzeptablen menschlichen Preis“, sagt Ellen van der Velden, Leiterin der Such- und Rettungseinsätze von Ärzte ohne Grenzen: „Der springende Punkt ist jedoch, dass die EU der Überwachung der Grenzen Vorrang vor der Suche und Rettung gibt und dem JRCC die Verantwortung für die maritime Koordination in einem großen Teil des Meeres übertragen hat."

Obwohl nach einem inoffiziellen Report der EU-Mittelmeermission die libysche Küstenwache 2018 sich „noch nicht auf einem durchgängig akzeptablen Niveau“ befand, stellte die EU die Seenotrettung im Mittelmeer ein und begann die Kriminalisierung und Einschränkung privater Seenotrettung voranzutreiben.

Schutzsuchenden, die von der libyschen Küstenwache aufgegriffen werden, droht ebenfalls ein grausames Schicksal. Auch nach Angaben der Bundesregierung landen die Schutzsuchenden in öffentlichen und privaten Haftanstalten, in denen Folter, sexualisierte Gewalt und Sklavenhandel die Situation prägen.