Sebahat Tuncel wegen Präsidentenbeleidigung verurteilt

Weil sie Erdoğan im Jahr 2016 als „Frauen- und Kurdenfeind“ bezeichnete, ist die inhaftierte kurdische Politikerin und ehemalige Abgeordnete Sebahat Tuncel wegen Präsidentenbeleidigung zu einer knapp einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Ein türkisches Gericht in der nordkurdischen Metropole Amed (türk. Diyarbakir) hat Sebahat Tuncel wegen des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung zu einer knapp einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Als Grundlage wurde eine Rede der kurdischen Politikerin herangezogen, die sie im Oktober 2016 – kurz vor ihrer eigenen Verhaftung – auf einer Protestaktion in Amed gegen die Festnahme der damaligen Ko-Bürgermeister*innen Gültan Kışanak und Fırat Anlı hielt.

In der Rede bezeichnete Tuncel den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als „Frauen- und Kurdenfeind“. Warum sich der AKP-Chef erst in diesem Jahr wegen dieser Aussage beleidigt sah und Tuncel anzeigte, ist unklar. Anfang des Jahres war die hohe Freiheitsstrafe von 15 Jahren gegen die ehemalige Parlamentsabgeordnete im Revisionsverfahren aufgehoben und der Prozess neu aufgerollt worden. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang.

Persönlich vor Gericht erschien die weiterhin inhaftierte Tuncel am Donnerstag nicht, stattdessen wurde sie im Saal von ihrem Anwalt Şivan Cemil Özen vertreten. Dieser führte ins Feld, dass seine Mandantin die angeprangerte Aussage als Ko-Vorsitzende einer politischen Partei (DBP) getätigt habe. Die Rede sei – auch wenn sie von der Generalstaatsanwaltschaft aus dem Kontext gerissen wurde – von der Meinungsfreiheit gedeckt. Zudem verwies Özen auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall des baskischen Politikers Miguell Castells gegen Spanien und erklärte, dass zur Beurteilung der Rede Tuncels der gesamte Kontext berücksichtigt werden müsse, andernfalls verstoße das Gericht ebenfalls gegen die europäische Rechtsprechung. Das Gericht in Amed blieb allerdings unbeeindruckt von den Einwänden des Juristen und verurteilte Tuncel zu einer Haftstrafe von elf Monaten und zwanzig Tagen. Özen will Berufung einlegen.

36.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung

Präsidentenbeleidigung ist ein gängiger Vorwurf in der Türkei. Allein 2019 sind nach Angaben des türkischen Justizministeriums insgesamt 36.066 Verfahren wegen Beleidigung von Recep Tayyip Erdoğan angestrengt worden. Über 3.800 Angeklagte wurden zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt.

Wer ist Sebahat Tuncel?

Die Politikerin, Feministin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde im Jahr 2006 aufgrund des Verdachts der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert. Ein Jahr zuvor gründete sie mit anderen kurdischen Politikerinnen und Politikern die Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die sich für die nationale Anerkennung der Kurden und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzte. Die Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.

Für die Parlamentswahlen 2007 kandidierte die heute 45-Jährige als unabhängige Kandidatin für die Provinz Istanbul und gewann mit 93.000 Stimmen im dritten Wahlbezirk. Daraufhin wurde sie am 25. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Tuncel ist damit die erste Abgeordnete, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann.

Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 stellte sie sich als unabhängige Kandidatin wieder für Istanbul auf und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel war. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesterpartei die HDP. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.

Sebahat Tuncel wurde im Herbst 2016 erneut verhaftet und im Februar 2019 gemeinsam mit Gültan Kışanak wegen Terrorismusvorwürfen zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das Revisionsgericht hat das Urteil wegen Formfehlern aufgehoben. Seit Mitte Januar läuft das wieder aufgerollte Verfahren in Meletî (Malatya). Tuncel befindet sich weiterhin in Haft.