Tuncel: Die kurdische Frage wird nicht vor Gericht gelöst
In Meletî hat die siebte Verhandlung im neuaufgerollten Prozess gegen die kurdischen Politikerinnen Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel stattgefunden.
In Meletî hat die siebte Verhandlung im neuaufgerollten Prozess gegen die kurdischen Politikerinnen Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel stattgefunden.
Vor der 5. Kammer am Schwurgericht der nordkurdischen Provinzhauptstadt Meletî (türk. Malatya) hat am Freitag die siebte Verhandlung im neuaufgerollten Prozess gegen Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel stattgefunden. Beide Politikerinnen bemängelten, dass ihr Recht auf Verteidigung verletzt werde. Weder hätten sie hinreichende Akteneinsicht noch Zugang zu ihrem Rechtsbeistand – und das seit März, erklärten Kışanak und Tuncel. Zudem warfen sie dem Gericht vor, bewusst eine Gefahrenlage geschaffen und sie einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt zu haben, weil es trotz der aktuellen Corona-Pandemie auf einer Verhandlung bestand. Zwar wurden die Politikerinnen nicht in den Gerichtssaal gebracht, sondern per Videoschalte aus dem F-Typ-Gefängnis in Kandıra in die Verhandlung eingebunden. Der Verhandlungsraum in der Haftanstalt sei allerdings so dreckig gewesen, dass Kışanak sich gezwungen sah, zunächst den Schmutz zu entfernen.
Kışanak seit sechs Monaten in Isolation
„Weshalb bin ich heute hier? Vermutlich, weil das Gericht politisch unter Druck steht“, sagte Kışanak. Die frühere Bürgermeisterin von Amed (Diyarbakir) führte weiter aus, dass sie eine „historische Verantwortung“ trage, da es sich um einen politisch motivierten Prozess gegen die handelt, und unter entsprechenden Voraussetzungen ihre Verteidigung vortragen wolle. „Aber diese Voraussetzungen werden nicht erfüllt. Seit einem halben Jahr werde ich einer erschwerten Isolation ausgesetzt, kann keine Besuche von meinem Rechtsbeistand erhalten. In Colemêrg (Hakkari) und Izmir eingeleitete Verfahren sind ohne staatsanwaltliche Befragung mit dem laufenden Prozess zusammengelegt worden. Unter diesen Voraussetzungen kann das Gericht nicht ernsthaft glauben, dass ich mich verteidige“, so die 59-Jährige.
Tuncel: Prozess wird kriminalisiert
Sebahat Tuncel sieht den Grund ihrer Inhaftierung in der ungelösten kurdischen Frage. „Diese Angelegenheit lässt sich nicht vor Gericht lösen. Und weil die kurdische Frage ungelöst bleibt, vertiefen sich alle anderen Konflikte im Land“, erklärte die ehemalige Parlamentsabgeordnete. Als Beispiel für den Unwillen der Regierung, die kurdische Frage zu lösen, nannte Tuncel die Schließung des KJA (Kongress freier Frauen) durch ein staatliches Notstandsdekret, die Repression gegen die kurdische Frauenbewegung TJA und den Frauenverein Rosa in Amed und politische Prozesse gegen HDP-Politiker*innen sowie Oppositionelle. Sie alle seien Teil der Seite, die die Konflikte im Land aus dem Weg räumen wolle. „Wir tragen eine Verantwortung. Aus diesem Grund wollen wir unsere Verteidigung in einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Umfeld durchführen. Es ist der politische Wille, der dieses Problem lösen wird“, so die 45-Jährige. Tuncel ergänzte, dass sie kriminalisiert werde. „Alle unsere politischen Aktivitäten haben in einem demokratischen Rahmen stattgefunden. Würden in der Türkei Demokratie, Menschenrechte und Frauenrechte existieren, wären wir heute nicht hier.“
Den vom Rechtsanwalt Mehmet Emin Aktar gestellten Haftentlassungsantrag wegen Überschreitung der maximalen Dauer der Untersuchungshaft lehnte das Gericht ab. Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel bleiben vorerst in Geiselhaft. Der Prozess gegen sie wird am 18. November fortgesetzt.
Prozess läuft seit Januar
Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel wurden im Herbst 2016 verhaftet und sind im Februar 2019 wegen Terrorismusvorwürfen zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Wegen „Gründung und Leitung einer Organisation“ sowie „Organisationspropaganda“ wurde Kışanak zu 14 Jahren und drei Monaten, Tuncel zu 15 Jahren Haft verurteilt. 2019 hat ein türkisches Revisionsgericht das Urteil gegen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak aufgehoben. Seit Mitte Januar läuft der neue Prozess in Meletî.
Wer ist Sebahat Tuncel?
Die Politikerin, Feministin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde im Jahr 2006 aufgrund des Verdachts der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert. Ein Jahr zuvor gründete sie mit führenden kurdischen Politiker*innen die Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die sich für die nationale Anerkennung der Kurd*innen und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzte. Die Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.
Für die Parlamentswahlen 2007 kandidierte die 45-Jährige als unabhängige Kandidatin für die Provinz Istanbul und gewann mit 93.000 Stimmen im dritten Wahlbezirk. Daraufhin wurde sie am 25. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Tuncel ist damit die erste Abgeordnete, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann.
Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 stellte sie sich als unabhängige Kandidatin wieder für Istanbul auf und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel ist. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesternpartei die HDP. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.
Wer ist Gültan Kışanak?
Bevor Gültan Kışanak Bürgermeisterin der Stadt Amed wurde, war sie Abgeordnete der BDP im türkischen Parlament und Ko-Vorsitzende der Partei. Im Jahr 1980 wurde sie nach dem Militärputsch vom 12. September als 19-Jährige festgenommen und im berüchtigten Kerker von Amed, der „Hölle Nr. 5“ gefoltert. Nach rund zwei Jahren im Gefängnis studierte Kışanak zunächst Türkisch an der Dicle-Universität in Amed, brach jedoch ab und begann 1986 ein Studium für Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Ege Üniversitesi in Izmir.
Ab 1990 arbeitete sie als Journalistin für verschiedene prokurdische Zeitungen, unter anderem für die Yeni Ülke und Özgür Gündem. Später wurde sie Chefredakteurin von Özgür Gündem in Istanbul. Nach dem Verbot der Zeitung arbeitete sie in leitender Funktion für die Nachfolgezeitung Özgür Ülke. Bis 2002 war sie bei verschiedenen Zeitungen tätig, unter anderem als Kolumnistin für die Yeniden Özgür Gündem.
Bei den Regionalwahlen 2014 wurde die heute 59-Jährige mit über 55 Prozent der Stimmen als erste Frau zur Bürgermeisterin von Amed gewählt. Als solche ließ sie das Gefängnis, in dem sie einst gefoltert wurde, zu einem Museum umbauen.