Kurdische Politikerinnen bleiben in Geiselhaft

Auch in der sechsten Verhandlung im wiederaufgerollten Prozess gegen Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel hat das Gericht in Meletî die Fortsetzung der Haft angeordnet. Seit knapp vier Jahren befinden sich die kurdischen Politikerinnen bereits im Gefängnis.

In der Provinz Meletî (türk. Malatya) ist am Freitag der wiederaufgerollte Prozess gegen Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel fortgesetzt worden. Auch in der sechsten Verhandlung wurde der Haftstatus nicht aufgehoben. Die kurdischen Politikerinnen bleiben in Geiselhaft.

Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel wurden im Herbst 2016 verhaftet und sind im Februar 2019 wegen Terrorismusvorwürfen zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Wegen „Gründung und Leitung einer Organisation“ sowie „Organisationspropaganda“ wurde Kışanak zu 14 Jahren und drei Monaten, Tuncel zu 15 Jahren Haft verurteilt. 2019 hat ein türkisches Revisionsgericht das Urteil gegen Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak aufgehoben. Seit Mitte Januar läuft der neue Prozess vor der 5. Strafkammer Malatya.

Persönlich anwesend waren Kışanak und Tuncel gestern im Gerichtssaal nicht. Stattdessen wurden sie aus dem Frauengefängnis Kandira über ein Videokonferenzsystem in die Verhandlung eingebunden. Beide verurteilten die Verhaftungsoperationen gegen kurdische Politikerinnen und kündigten an, ihre Verteidigung bei der nächsten Verhandlung durchzuführen. Der Prozess wird am 4. September fortgesetzt.

Wer ist Sebahat Tuncel?

Die Politikerin, Feministin und ehemalige Krankenschwester Sebahat Tuncel wurde im Jahr 2006 aufgrund des Verdachts der PKK-Mitgliedschaft angeklagt und inhaftiert. Ein Jahr zuvor gründete sie mit führenden kurdischen Politiker*innen die Partei der demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi, DTP), die sich für die nationale Anerkennung der Kurd*innen und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzte. Die Partei wurde am 11. Dezember 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.

Für die Parlamentswahlen 2007 kandidierte die 44-Jährige als unabhängige Kandidatin für die Provinz Istanbul und gewann mit 93.000 Stimmen im dritten Wahlbezirk. Daraufhin wurde sie am 25. Juli 2007 aus der Haft entlassen. Tuncel ist damit die erste Abgeordnete, die aus dem Gefängnis heraus eine Wahl gewann.

Nach dem Verbot der DTP trat Tuncel der Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi, BDP) bei. Für die Parlamentswahlen im Juni 2011 stellte sie sich als unabhängige Kandidatin wieder für Istanbul auf und wurde wiedergewählt. 2014 wurde die BDP auf dem dritten Parteikongress umbenannt. So entstand die heutige Partei der demokratischen Regionen (Demokratik Bölgeler Partisi, DBP), deren Ko-Vorsitzende Sebahat Tuncel ist. Anders als zuvor die BDP konzentriert sich die DBP auf ein Engagement auf lokaler Ebene. Die Teilnahme an nationalen Parlamentswahlen übernimmt als Schwesternpartei die HDP. Das erklärte Ziel der DBP ist die Vertretung der Interessen der kurdischen Bevölkerung und eine Dezentralisierung der Türkei.

Sebahat Tuncel ist am 15. Januar im Gefängnis von Kandira in einen unbefristeten Hungerstreik gegen die Isolation Abdullah Öcalans getreten. Gültan Kışanak hatte zuvor einen zehntägigen Hungerstreik durchgeführt.

Wer ist Gültan Kışanak?

Bevor Gültan Kışanak Bürgermeisterin der Stadt Amed wurde, war sie Abgeordnete der BDP im türkischen Parlament und Ko-Vorsitzende der Partei. Im Jahr 1980 wurde sie nach dem Militärputsch vom 12. September als 19-Jährige festgenommen und im berüchtigten Kerker von Amed, der „Hölle Nr. 5“ gefoltert. Nach rund zwei Jahren im Gefängnis studierte Kışanak zunächst Türkisch an der Dicle-Universität in Amed, brach jedoch ab und begann 1986 ein Studium für Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Ege Üniversitesi in Izmir.

Ab 1990 arbeitete sie als Journalistin für verschiedene prokurdische Zeitungen, unter anderem für die Yeni Ülke und Özgür Gündem. Später wurde sie Chefredakteurin von Özgür Gündem in Istanbul. Nach dem Verbot der Zeitung arbeitete sie in leitender Funktion für die Nachfolgezeitung Özgür Ülke. Bis 2002 war sie bei verschiedenen Zeitungen tätig, unter anderem als Kolumnistin für die Yeniden Özgür Gündem.

Bei den Regionalwahlen 2014 wurde die heute 59-Jährige mit über 55 Prozent der Stimmen als erste Frau zur Bürgermeisterin von Amed gewählt. Als solche ließ sie das Gefängnis, in dem sie einst gefoltert wurde, zu einem Museum umbauen.