Türkei: 36.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung

Laut einer Statistik des türkischen Justizministeriums wurden 2019 insgesamt 36.066 Verfahren wegen Beleidigung von Recep Tayyip Erdoğan angestrengt. Über 3.800 Angeklagte wurden zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt.

Schon Mustafa Kemal Atatürk, „Vater der Türken”, duldete keine Kritik an seiner Person. Die ursprüngliche Fassung des Tatbestands der Präsidentenbeleidigung in der Türkei gemäß Artikel 299 des Strafgesetzbuches sah 1926 noch Zuchthaus von mindestens drei Jahren für Personen vor, die den Staatspräsidenten in dessen Gegenwart oder durch Publikationen beleidigten. Die mündliche Beleidigung in Abwesenheit wurde mit Haftstrafen von einem Jahr bis drei Jahren bestraft. Mit den Jahren wurde das Gesetz immer wieder ergänzt bzw. Änderungen an der Formulierung vorgenommen. Inzwischen drohen Personen, die das Staatsoberhaupt beleidigen, bis zu vier Jahre Gefängnis. Für Oppositionelle und Medienschaffende kann die Strafe sogar noch höher ausfallen - obwohl die türkische Verfassung gleichzeitig die Meinungs- und Pressefreiheit als hohes Gut definiert.

Das das umstrittene Gesetz unter Recep Tayyip Erdoğan besonders inflationär angewandt wird, zeigt nun eine Statistik des türkischen Justizministeriums. Waren es in den ersten eineinhalb Jahren seit Erdoğans Präsidentschaft ab 2014 noch 1.845 Verfahren, die die türkische Justiz wegen mutmaßlicher Präsidentenbeleidigung angestrengt hatte, wurde im vergangenen Jahr gegen 36.060 Personen ermittelt. 2.663 von insgesamt 12.298 Gerichtsverfahren endeten mit Bewährungs- oder Haftstrafen in verschiedener Höhe, gegen 1.168 Betroffene wurden Geldstrafen verhängt. Bei 318 Angeklagten handelte es sich laut dem Justizministerium um Minderjährige im Alter zwischen zwölf und siebzehn Jahren, 30 von ihnen wurden verurteilt, vier landeten im Gefängnis.

120 Ermittlungsverfahren gegen „Ausländer“

Laut den Daten des Ministeriums mussten sich 2019 im Zusammenhang mit dem Verdacht der Erdoğan-Beleidigung auch 120 nichttürkische Staatsangehörige vor Gericht verantworten. Bei drei weiteren handelte es sich um juristische Personen wie Parlamentsabgeordnete oder Bürgermeister*innen. Die Gerichtsverfahren richteten sich in der Regel gegen Männer. Gegenüber 10.730 männlichen Personen, gegen die auf Grundlage von Artikel 299 Anklage erhoben wurde, standen 1.056 Frauen, die sich mit dem gleichen Vorwurf vor Gericht auseinandersetzen mussten.

Verfahren seit vermeintlichem Putschversuch in die Höhe geschnellt

Aus der Statistik ist ersichtlich, dass die Anzahl der Verurteilungen wegen Präsidentenbeleidigung vor allem seit dem vermeintlichen Putschversuch im Sommer 2016 rapide angestiegen ist:

2016: 884

2017: 2.099

2018: 2.462

2019: 3.831

Zählt man die Fälle aus 2014 (40) und 2015 (238) hinzu, wurden seit Erdoğans Präsidentschaft insgesamt 9.554 Menschen wegen kritischen Äußerungen zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt. Angaben zu einzelnen Berufsgruppen werden in der Statistik des Justizministeriums nicht berücksichtigt, doch inzwischen ist allgemein bekannt, dass es neben Oppositionspolitiker*innen, allen voran Mitglieder der Demokratischen Partei der Völker (HDP), vor allem Medienschaffende und Aktivist*innen der Zivilgesellschaft sind, die wegen des Artikels in Bedrängnis geraten. Sowohl die Europäische Union als auch die Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarates, die Staaten verfassungsrechtlich berät, fordern schon lange aufgrund der Häufung der Fälle den Artikel 299 aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Bislang weigert sich die Regierung in Ankara.