In Obhut des Staates zu Tode gefoltert
Die Samstagsmütter haben auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul Aufklärung über das Schicksal ihrer in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Angehörigen und eine Bestrafung der Täter gefordert. Thema der 1047. Mahnwache der Initiative war das Schicksal von Nurettin Yedigöl, der vor 44 Jahren festgenommen wurde und nie wieder auftauchte. Die Menschenrechtsaktivistin Besna Tosun, selbst Angehörige eines Verschwundenen, stellte den Fall vor.
Kurde, Alevite, Sozialist
Nurettin Yedigöl war bekennender Sozialist. Er war in den 1970ern aus seinem alevitisch-zazaischen Dorf in der Provinz Ezirgan (tr. Erzincan) nach Istanbul gezogen und hatte sein Studium der Betriebswirtschaftslehre gerade beendet, als er unmittelbar nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 aufgrund seiner Aktivitäten in der linken Studierendenbewegung zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Im April 1981 wurde er in einer Wohnung im Stadtteil Maltepe festgenommen und zur politischen Polizei im Revier Gayrettepe gebracht. Die Wache war damals Synonym für schwere Menschenrechtsverletzungen und betrieb eine Folterkammer, die von dem berüchtigten Dienstgruppenleiter Tayyar Sever geleitet wurde. Dieser befehligte ein Team mit dem Namen „Gruppe K“, die ihre Folterausbildung von der Junta in Honduras erhalten hatte.
Besna Tosun
Eine Woche lang in Folterkammer misshandelt
Eine Woche lang soll Nurettin Yedigöl in der Wache Gayrettepe festgehalten worden sein. Zehn Zeugen, die damals ebenfalls in Gewahrsam waren, sagten später in verschiedenen Verfahren aus, dass er immer wieder in die Folterkammer gezerrt worden sei, ganze vier Tage habe man ihn gar nicht zurück in seine Zelle gebracht. Zuletzt wurde Yedigöl am 17. April 1981 in dem berüchtigten Revier gesehen. Man geht nicht davon aus, dass er zu dem Zeitpunkt noch lebte. „Er war blutüberströmt und nicht ansprechbar am Boden. Vermutlich war er bereits tot“, heißt es in der Aussage eines Zeugen. Das war das letzte Mal, dass der Sozialist gesehen wurde. Die Polizei behauptete danach, eine Person namens Nurettin Yedigöl gar nicht in Gewahrsam genommen zu haben. Sein Leichnam ist bis heute verschwunden.
Verfahren systematisch von Behörden verschleppt
„Trotz mehrerer Anzeigen hat die Familie Yedigöl nie Gerechtigkeit erfahren“, sagte Besna Tosun. In drei separaten Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft die Verfahren wegen Verjährung ein. Tosun zitierte aus der Antwort der erstmals mit dem Fall betrauten Behörde auf eine Strafanzeige von Angehörigen des Vermissten: „So etwas wie Folter oder Verschwindenlassen in Haft gibt es nicht – unterstellt dem Staat keine Verbrechen.“ Eine Verfassungsbeschwerde der Mutter Zeycan Yedigöl wurde 2015 vom Verfassungsgericht abgewiesen, mit der Begründung, dass der Fall außerhalb des zulässigen Zeitrahmens liege. Derzeit liegt eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vor.
„Diese Entscheidung ignorierte die Schwere des Verbrechens und verhinderte, dass die Wahrheit im nationalen Rechtssystem ans Licht kommt“, so Tosun. „Die Eltern von Nurettin Yedigöl, der zum Zeitpunkt seines Verschwindenlassens 26 Jahre alt war, suchten bis zu ihrem Lebensende nach ihrem Sohn – aber weder ihn noch Gerechtigkeit konnten sie finden.“
Muzaffer Yedigöl
„Wir geben nicht auf“
Yedigöls Bruder Muzaffer Yedigöl war ebenfalls auf der Mahnwache. Er erklärte in einer Rede: „Unser Schmerz hat vielleicht eine Kruste bekommen, aber er ist nicht verschwunden. Wir wünschen uns wenigstens ein Grab. Dieses Land braucht endlich Frieden und Demokratie, doch antidemokratische Praktiken setzen sich fort. 44 Jahre sind vergangen – wir und unsere Kinder werden nie aufhören, nach unseren Verschwundenen zu suchen. Ganz gleich, wie viele Jahre vergehen – unsere Suche nach Gerechtigkeit endet erst, wenn die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.“
Menschenrechtlerin Keskin kritisiert Straflosigkeit
Auch die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, ergriff das Wort. Sie betonte: „Viele Familien glaubten lange, es gäbe noch eine Akte zu ihren Angehörigen. Doch der Staat hat systematisch verhindert, dass diese Verbrechen untersucht werden. Selbst wenn Fälle nachträglich geöffnet wurden, endeten sie meist mit Verweis auf die Verjährung.“
Keskin forderte ein Ende der Straflosigkeit bei Verschwindenlassen und Foltertötungen. „Die Verantwortlichen müssen vor Gericht gestellt werden – unabhängig davon, wie lange die Taten zurückliegen.“