Mutmaßlich menschliche Knochen in Licê gefunden

In einem Weiler bei Licê wurden mutmaßlich menschliche Knochen entdeckt. Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass es sich um Überreste von Opfern des gewaltsamen Verschwindenlassens handeln könnte.

Opfer von staatlichem Verschwindenlassen?

In der Ortschaft Dêrqam (tr. Duru) im nordkurdischen Landkreis Licê sind vor rund einer Woche mutmaßlich menschliche Knochen entdeckt worden. Zwei unter Felsblöcken liegende Skelettreste – darunter ein Schädel – wurden von Anwohnenden beim Hüten von Tieren in einem abgelegenen Bachbett gefunden.

Die Entdeckung liegt rund 300 Meter vom Bachlauf entfernt; die Knochen waren unter zwei etwa vier Meter auseinanderliegenden Steinen verborgen. Daraufhin wandten sich die Finder:innen in der Provinzhauptstadt Amed (Diyarbakır) an die Zweigstellen des Menschenrechtsvereins IHD, der Vereinigung freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) sowie an die örtliche Anwaltskammer. Diese stellten umgehend ein Erkundungsteam zusammen, das den Fundort am Donnerstag dokumentierte und eine erste Einschätzung vornahm.

Rechtliche Schritte und Forderungen

Nach der gemeinsamen Untersuchung durch die Organisationen wurde die Staatsanwaltschaft Lice über den Fund informiert. In ihrer schriftlichen Anzeige forderten IHD, ÖHD und die Anwaltskammer eine umfassende Sicherung des Fundorts sowie forensische Untersuchungen unter Beteiligung von Expert:innen für Gerichtsmedizin und Kriminalistik. „Die Knochen wurden abseits jeglicher bekannter Friedhöfe entdeckt. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um menschliche Überreste handelt, ist nach unserer Einschätzung hoch. Der Fundort muss gesichert und professionell untersucht werden, um Beweise zu sichern und eine mögliche Strafverfolgung zu ermöglichen“, heißt es in der Anzeige.

Die Organisationen verweisen dabei auf die Verpflichtungen der Türkei nach Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) – dem Recht auf Leben –, das eine wirksame und unabhängige Untersuchung bei Todesfällen fordert. Besonders bei Verdacht auf gewaltsames Verschwindenlassen sei laut europäischer Rechtsprechung ein proaktives Handeln der Justizbehörden geboten.

Kriminaltechnische Untersuchung eingeleitet

Einen Tag nach der Anzeige und einem direkten Gespräch mit dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt von Diyarbakır, wurde der Fundort kriminaltechnisch untersucht. An der Maßnahme nahmen neben Beamt:innen der türkischen Militärpolizei auch Teams der Direktion für Kultur- und Naturschutz sowie Jurist:innen von IHD, ÖHD und der Anwaltskammer teil.

Die geborgenen Knochen wurden daraufhin an das Institut für Rechtsmedizin (ATK) überstellt. Die Ergebnisse der forensischen Analyse sollen klären, ob es sich tatsächlich um menschliche Überreste handelt und – im positiven Fall – ob eine Identifizierung über DNA-Abgleiche mit Angehörigen vermisster Personen möglich ist. Eine abschließende Aussage über eine mögliche Schutzstellung des Fundorts durch die Behörden liegt bislang nicht vor.

Hintergrund: Verdacht auf Opfer gewaltsamen Verschwindens

Die Region Licê gilt als eines der Zentren des schmutzigen Krieges des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung. In der Vergangenheit kam es dort wiederholt zu Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen, besonders in den 1990er Jahren. Die jetzt gefundenen Knochen lassen befürchten, dass es sich um ein bisher unentdecktes Grab eines dieser Opfer handeln könnte.

Die Menschenrechtsorganisationen fordern deshalb in ihrer Anzeige: „Es ist unabdingbar, dass DNA-Proben von Angehörigen vermisster Personen entnommen und abgeglichen werden. Zudem muss sichergestellt werden, dass Beweise nicht vernichtet werden – auch dann nicht, wenn staatliche Akteure involviert sein sollten.“

Der IHD und ÖHD sowie die Anwaltskammer in Amed kündigten an, den Fortgang der Ermittlungen genau zu beobachten und sich weiterhin aktiv für Aufklärung und Gerechtigkeit einzusetzen.