Koloniale Kontinuitäten: Luxusvillen auf Newala Qesaba

Beim Genozid von 1915 diente Newala Qesaba als Zwischenstopp der Deportationszüge in die syrische Wüste, in den 80ern entsorgte das Militär an der Stelle die Leichen von Kurden. Jetzt sollen Luxusvillen auf dem Massengrab entstehen.

Trotz heftiger Proteste hat in der kurdischen Stadt Sêrt (tr. Siirt) eine massive Bebauung auf Newala Qesaba begonnen. Auf dem Gelände, das bis vor einigen Jahren noch vom Kommando des Regiments der Militärpolizei bewirtschaftet wurde und dieser als Mülldeponie diente, ist Ende der Achtziger ein Massengrab entdeckt worden. Lediglich die Gebeine von acht Leichen wurden bis heute zutage gefördert, obwohl hunderte Skelette unter der Erde vermutet werden. Jahrzehntelang ignorierte der türkische Staat die Forderungen von Angehörigen der dortigen „Verschwundengelassenen“ und Menschenrechtsorganisationen, das Massengrab vollständig freizulegen, die Toten zu identifizieren und sie in Würde zu bestatten. Wenn dort gebaut werden sollte, dann nur für ein Gedächtniszentrum und erst, wenn alle Leichen geborgen sind, hieß es immer wieder. Stattdessen wurde ein Abschnitt nach dem anderen von Newala Qesaba als Baufläche ausgewiesen. Zunächst wich ein Teil einer zweispurigen Schnellstraße, dann wurde eine Polizeiakademie und zuletzt sogar ein Hochzeitssaal auf dem Gelände errichtet. Nun sollen auf dem Massengrab ein Appartement-Komplex mit vier jeweils achtstöckigen Wohngebäuden sowie mehr als achtzig Einfamilienhäuser entstehen.

Metzgersbach lautet die deutsche Übersetzung von Newala Qesaba in etwa, Kasaplar Deresi ist die türkische Bezeichnung. Nach dem 19. Januar 1989 erlangte der gut 40 Hektar große Ort nahe dem Zentrum der Stadt weit über Sêrt hinaus öffentliche Aufmerksamkeit. An jenem Tag war in der Monatszeitschrift 2000‘e Doğru (dt. „In Richtung 2000“) ein Artikel mit dem Titel „Eine Mülldeponie für Menschen in Siirt“ erschienen. Der Text stammte aus der Feder des kurdischen Journalisten Günay Aslan. Der damals 28-Jährige kam dem Massengrab nur auf die Spur, weil ihm Hunde mit Menschenknochen im Maul über den Weg liefen. Aslan recherchierte, sprach mit Familien, die Vermisste zu beklagen hatten, und sammelte Beweise. Die Regierung dementierte den Bericht: „Aus der Luft gegriffen“ seien die Behauptungen über ein „angebliches Massengrab“, der „Wisch“ habe keine Substanz. Unter dem Deckmantel Journalismus werde „Verleumdung und Aufruhr“ betrieben der darauf abziele, „die Sicherheitskräfte zu denunzieren und sie zu demoralisieren“. Wenn ein empfindlicher Nerv der Herrschenden angebohrt wird, klingen die erklärenden Worte stets gleichlautend.

Freigelegte Menschenknochen aus Newala Qesaba

Die vermeintliche Empörung in Ankara brachte internationale Medien auf den Plan. In der Zwischenzeit hatten sich auch einige Abgeordnete der SHP (Sozialdemokratische Populistische Partei), darunter der kurdische Politiker Mahmut Alınak, der Sache angenommen und eine Delegation nach Sêrt entsandt. Gemeinsam mit Günay Aslan führte die Delegation Untersuchungen auf Newala Qesaba durch und sprach mit Vermisstenangehörigen sowie Zeugen des Verschwindenlassens von Opfern staatlicher Gewalt auf dem vom Militär genutzten Gelände. Auf die Anfrage Alınaks vom 16. Februar 1989 mit Fragen zur Anzahl der dortigen Leichen und darüber, ob es denn im Einklang mit den Wertvorstellungen des Staates sei, Menschen auf einer Mülldeponie zu entsorgen, selbst wenn es sich um „anonyme Tote” oder „Feinde“ handeln würde, hat das Innenministerium der Türkei bis heute nicht geantwortet.

„Newala Qesaba ist ein Resultat des schmutzigen Krieges und des rassistischen Hasses gegen die kurdische Gesellschaft. Die Bedeutung dieses Ortes ergibt sich aus den Verbrechen gegen die Menschlichkeit und aus der Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen, der dort beseitigt wurde. Man stelle sich einen Staat vor, der Menschen, die er in Haft zu Tode gefoltert oder bei der sogenannten Aufstandsbekämpfung ‚tot aufgegriffen‘ hat, in diesen vom Militär als Müllentsorgungsplatz genutzten Bach wirft. Die meisten Leichen wurden durch städtische Abfallfahrzeuge entsorgt – zusammen mit Müll. Wir dürfen nicht vergessen, dass es hier um Menschen geht. Nach staatlicher Meinung mögen es ‚Schuldige‘ sein – auch wenn in den allerwenigsten Fällen Ermittlungen oder gar Gerichtsurteile vorlagen. Ihre Festnahmen waren noch nicht einmal dokumentiert. Es handelte sich meist um arme kurdische Dorfbewohner, die man willkürlich oder aufgrund eines vermeintlichen Hinweises festgenommen hatte. Menschen mit Ehefrauen, Kindern oder Eltern und Anstrengungen, den eigenen Alltag zu meistern. Andere waren Kämpfende der PKK, darunter der legendäre Guerillakommandant Mahsum Korkmaz (Egîd). Er liegt noch immer an der Stelle, auf die er geworfen wurde. Seine Familie kennt den genauen Platz, darf seinen Körper aber nicht bergen.“ – Günay Aslan

Bedroht, zusammengeschlagen, verbannt

Günay Aslan hatte 1989 auch eine Liste mit Namen jener Menschen erstellt, die von staatlichen Kräften ermordet und auf Newala Qesaba „entsorgt“ worden waren. Er legte sie der Staatsanwaltschaft Siirt vor und erstattete Anzeige. Der damalige Provinzgouverneur Atilla Koç, der später Minister für Kultur und Tourismus wurde, ließ den Journalisten daraufhin vorladen. Im Beisein des Leiters der örtlichen Polizei und des Chefanklägers von Siirt wurde Aslan beleidigt und mit dem Tod bedroht, sollte er an der Sache weiter dranbleiben. Beim Verlassen des Gouverneursamtes zerrten ihn Mitglieder einer paramilitärischen Sondereinheit in ein Fahrzeug, brachten ihn an einen Ort außerhalb der Stadt und verprügelten ihn. Anschließend setzten sie den blutüberströmten Journalisten in einen Bus und wiesen den Fahrer an, den Reisenden ja nicht vor Amed (Diyarbakır) rauszulassen. Günay Aslan war fortan der Zutritt nach Sêrt untersagt.

Mindestens 300 Kurden in Mülldeponie versenkt

Die Sache mit dem Massengrab in Newala Qesaba wich aber nicht von der Tagesordnung. Am 22. April 1989 musste die Regierung eine offizielle Ausgrabung absegnen, da sich Meldungen darüber gehäuft hatten, dass dort die Knochen von mindestens 300 Kurdinnen und Kurden vermutet werden. Innerhalb weniger Stunden stieß man auf die Gebeine von acht Personen, doch noch am selben Tag wurden die Arbeiten auf Anordnung des Gouverneurs wieder eingestellt. In den folgenden Jahren gelang es niemandem, eine Aufnahme der Ausgrabungen zu erwirken. 2011 startete der Menschenrechtsverein einen erneuten Versuch. Parallel zu Ersuchen von Einzelpersonen aus dem Umfeld der Toten von Newala Qesaba wurden sowohl ein Antrag auf die Anerkennung des Bachs als Schutzgebiet als auch Anzeigen gegen die ehemaligen Verantwortlichen bei Polizei, Militär und Justizbehörden gestellt. Doch auch diese Initiative brachte keinen Schritt hin zu Gerechtigkeit für die Opfer. Erst ließ der Staat Newala Qesaba zuschütten, dann wurde der Bachlauf zubetoniert. Zu guter Letzt hat man den Ort als Bauland deklariert und teilweise veräußert. Was mit den 1989 gefundenen Leichen geschah, ist bis heute ebenso wenig bekannt wie ihre Identitäten.

1915 Zwischenstopp von Deportationszügen

Newala Qesaba wurde jedoch nicht erst mit der „Aufstandsbekämpfung“ des türkischen Staates in Kurdistan zu einem Massengrab für vermeintliche Feinde der Regierung Ankaras. Schon 1915, als das Osmanische Reich einen Genozid an der armenischen Nation verübte und hunderttausende ihrer Angehörigen in die syrische Wüste trieb, beseitigten die Täter ihre Opfer auf Newala Qesaba. Denn die Stelle galt als Zwischenstopp der Deportationszüge, die von der jungtürkischen Führung als „kriegsbedingte Sicherheitsmaßnahmen“ bezeichnet wurden. Sie seien „notwendig“ gewesen, weil die Armenier:innen das Osmanische Reich verraten und seine damaligen Kriegsgegner unterstützt hätten. Wie viele Opfer dieses Völkermords noch tiefer unter der Erde von Newala Qesaba liegen, das wissen selbst armenische Quellen nicht so genau. Es dürften Hunderte, wenn nicht Tausende sein.

Schwimmbad auf Massengrab

Letzten Mai hatte mit „WarYap“ eine der AKP-Regierung und dem jetzigen Provinzgouverneur Osman Hacıbektaşoğlu – der zugleich seit der Absetzung der HDP-geführten Stadtverwaltung im Sommer 2020 als Treuhänder im Rathaus von Sêrt fungiert – nahestehende Firma mit den Vorarbeiten für eine größere Bebauung auf Newala Qesaba begonnen. Zu dem Zeitpunkt ging man noch davon aus, dass die dortige Polizeischule ein neues Gebäude bekommen sollte. Mittlerweile herrscht Gewissheit darüber, dass auf dem Massengrab ein neues Reichen-Viertel für Sêrt entstehen soll. Dem an der Baustelle angebrachten Bauplan ist zu entnehmen, dass es auf dem Gelände auch einen privaten Swimmingpool geben wird.

Meral Danış Beştaş: „Es ist eine Schande“

Vergangenen Mittwoch reiste eine Abordnung mehrerer HDP-Abgeordneter für eine Inspektion der derzeitigen Lage auf Newala Qesaba aus Ankara in die Region. Die türkischen Behörden ließen zusätzlich zu etlichen neuen Straßensperren, die zwischen Êlih (Batman) und Sêrt wie Pilze aus dem Boden wuchsen, ein großes Kontingent an Polizei aufmarschieren. „Und das alles nur, um die Öffentlichkeit von der Wahrheit zu schützen“, kommentierte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Meral Danış Beştaş. „Es ist eine Schande. Seit mehr als dreißig Jahren fordern die Angehörigen der hier verscharrten Menschen die Knochen ihrer Liebsten. Statt sie herauszugeben, sich der Vergangenheit zu stellen, die Wahrheit ans Licht zu bringen und die Auseinandersetzung mit seiner kolonialistischen Mentalität zu suchen, will der Staat seine mörderischen Spuren unter Betonklötzen verschwinden lassen“, sagte die Politikerin. „Wir wollen, dass Newala Qesaba als Gedenkstätte geschützt wird. Es ist ein Ort der historischen und kollektiven Erinnerung. Er darf nicht unter Villen verschwinden. Die Opfer müssen geborgen und in Würde bestattet werden. Das ist dieser Staat den Angehörigen der Toten schuldig.“ Ob die Regierung ihre kolonialen Kontinuitäten überwinden und doch noch einlenken wird, bleibt zu bezweifeln.