Die 1935 erbaute türkische Militärkaserne in Dersim, die als Koordinierungszentrum für den Genozid an den alevitischen Kurdinnen und Kurden zwischen den Jahren 1937 und 1938 gilt, ist auf Betreiben des türkischen Kulturministeriums in ein Museum umgewandelt worden. Die Zivilgesellschaft ist empört, hatten lokale Institutionen doch ein Gedächtnis-Zentrum gefordert. „Die genozidale Mentalität schwebt auch über achtzig Jahre nach Dersim '37/38 weiterhin auf der Oberfläche“, kritisiert das Zentrum der Dersim-Studien (DAM). Um dies zu verstehen, brauche es keiner Imagination. Der Name des Museums spreche schließlich für sich: „Tunceli Museum“, unterstreicht der Verein.
„Tunceli 38“, so nannte die türkische Führung unter Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk die „Operation“, die über 70.000 Menschen das Leben kostete. In Dersim werden die Massaker von 1937/1938 „Tertele“ genannt, was Untergang und Zerstörung bedeutet. Unter dem Namen „Roza Şaye“ (Der schwarze Tag) ging der Tertele als zweitgrößter Massenmord in der Türkei nach dem Genozid an den Armeniern in die dunkelsten Kapitel der Geschichte ein.
Die Militärkaserne galt als das Planungszentrum für die äußerst brutalen Massaker in Dersim. Darüber hinaus wurde es als Folterzentrum genutzt und war noch bis 1949 in Gebrauch. 2015 segnete das Kulturministerium ein Projekt für Restaurierungsarbeiten ab. Doch bereits zuvor bemühten sich zivilgesellschaftliche Organisationen, das Gebäude in eine Gedenkstätte zu verwandeln. „Wie wir sehen, waren unsere Bemühungen vergeblich“, stellt das DAM fest. Am Donnerstag wurde das „Tunceli Museum“ mit einer Zeremonie eröffnet, als Ehrengäste gekommen waren unter anderem der Gouverneur, der Generalstaatsanwalt, der Brigadeführer der militärpolizeilichen Kommandantur der Provinz, der Polizeichef und der Rektor der Munzur-Universität. Staatschef Recep Tayyip Erdogan schaltete sich per Video der Eröffnungszeremonie zu.
Dersim, für die Türkei eine „entvölkerungswürdige“ Zone
Angesichts der geografischen Gegebenheiten war es der Region Dersim zur Zeit des Osmanischen Reiches weitgehend möglich, einen de-facto autonomen Status und ein Mosaik aus ethnischen und religiösen Gruppen aufrechtzuerhalten. Dies änderte sich in den 1930er Jahren, als 1934 das sogenannte Besiedlungsgesetz (İskan Kanunu) in Kraft trat. Die Regierung unter Atatürk wollte einen homogenen türkischen Staat unter türkischer Prägung. Dersim war das erste Gebiet, in dem das Gesetz der Entvölkerung zur Geltung kommen sollte. In seiner Rede zu Parlamentseröffnung 1936 bemerkte Atatürk: „Um diese Wunde, diesen furchtbaren Eiter in unserem Innern, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen – egal was es koste.“
Daraufhin wurden alle Institutionen der tribalen und religiösen Führung abgeschafft und ihr Grundbesitz konfisziert. Dersim wurde in Tunceli (türkisch: Eiserne Hand) umbenannt und unter Militärverwaltung gestellt. Beabsichtigt war eine politisch-administrative Reorganisation mit Hilfe militärischer Repression. Hierfür wurde der militärische Ausnahmezustand über Dersim verhängt.
1937 formierte sich ein Aufstand gegen die Assimilations- und Türkisierungspolitik des kemalistischen türkischen Staats. Dieser Aufstand wurde von Pîr Sey Rızo (Seyit Riza) angeführt. Den bewaffneten Widerstand wiederum führte das Paar Alişêr und Zarife an. Dass Frauen in den kurdischen Widerständen eine tragende Rolle spielen, hat Tradition. Doch durch einen physischen und kulturellen Genozid wurde der Aufstand in Dersim blutig niedergeschlagen.
Der Forderung zur Abschaffung der „Tunceli”-Gesetze und Gewährung einer Verwaltungsreform und nationaler Rechte wurde mit einem Einmarsch der türkischen Armee geantwortet. Am 4. Mai 1937 beschloss die Regierung in Ankara ihre Operation „Züchtigung und Deportation“. Sodann marschierte das türkische Militär mit 30.000 bis 40.000 Soldaten in Dersim ein und tötete bis zu 14.000 Menschen. Männer, Frauen, Alte und Kinder wurden erschossen oder – um keine Munition zu verschwenden – mit Bajonetten erstochen. Kinder wurden teilweise entführt und deportiert oder mit ihren Müttern in Heuschuppen gelockt und dort bei lebendigem Leibe verbrannt. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt und mit Kampfflugzeugen bombardiert.
Im September 1937 bot die türkische Regierung einen Waffenstillstand samt Friedensvertrag und sogar Kompensationen an. Daraufhin begab sich der damals 75-jährige Aufstandsanführer Sey Rıza für Friedensgespräche nach Ezirgan (Erzincan). Dort wurde er jedoch in einem Hinterhalt verhaftet, im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und am 15. November 1937 gemeinsam mit seinem Sohn und fünf seiner Freunde in Xarpêt hingerichtet.
Großer Genozid und Femizid beginnt
Nach der Ermordung des Geistlichen ging der Widerstand weiter – doch schon im Frühjahr 1938 schlug das Militär erneut zu: da Dersim keinen Anführer mehr hatte, hatte das Militär leichtes Spiel, den Aufstand vollständig niederzuwerfen. Die rund 100.000 Soldaten gingen nun noch brutaler vor, etwa 70.000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, wurden auf grausame Weise getötet. Zivilisten, die in Berghöhlen Zuflucht suchten, wurden eingemauert, ausgeräuchert oder verbrannt. Viele Opfer, vor allem Frauen, stürzten sich aus Verzweiflung von den Bergklippen in den Munzur, um nicht gefangen genommen zu werden. Über 100.000 Menschen wurden zur Deportation gezwungen.
Dersim stellt aus Sicht der Systematik von Genozid durch Femizid ein besonders abscheuliches Beispiel dar. Denn hier wurden Frauen nicht „nur“ ermordet, sondern durch sie sollte der physische Genozid durch den weißen Genozid vollendet werden [Anmerkung: Der Begriff „weißer Genozid” wird häufig im Zusammenhang nicht-physischer Formen von Ethnozid und Völkermord wie Vertreibung, Assimilation, Vernichtung des kulturellen Erbes und der Geschichte usw. im Kontext mit Gräueltaten an den Armeniern, Kurden, Aramäern, Assyrern und Eziden verwendet. Dies hat nichts mit der Verwendung des Begriffs durch rechtsradikale Verschwörungstheorien in westlichen Ländern zu tun, die Rassismus gegen weiße Menschen beinhalten.].
Dersim sollte vollständig zu Tunceli werden. Hierfür war eine Türkisierung und Sunnitisierung der Frauen und Mädchen notwendig. Denn kollektive Identität, Sprache, Kultur und Geist werden in ländlichen Gesellschaften überwiegend von Frauen transferiert. Die Mädchen und Frauen aus Dersim sollten nicht nur ihrer Familie, ihrer Häuser, ihrer Heimat beraubt werden, sondern von allem, was sie ausmacht: Ihrer kulturellen, sozialen, religiösen, ethnischen und sprachlichen Identität. Durch sie sollten die authentische Identität von Dersim ausgeschaltet und das Kollektivgedächtnis zerstört werden. Dies geschah zum größten Teil über Verschleppung der Mädchen und jungen Frauen. Die Anerkennung und Aufarbeitung des Genozids von Dersim auf staatlicher Ebene und in der Gesellschaft ist bis heute jedoch noch nicht vollzogen worden.