Angehörige von kranken politischen Gefangenen protestieren seit 339 Tagen im nordkurdischen Amed (tr. Diyarbakır). Jeden Tag findet die in der Anwaltskammer von Amed begonnene „Gerechtigkeitswache“ an einem anderen Ort statt. Inci Güler Altındağ, die seit dem ersten Tag des Protests dabei ist, kämpft für ihren seit 30 Jahren inhaftierten schwer kranken Bruder. Sie ist entschlossen „so lange weiterzumachen, bis Ergebnisse erzielt werden“.
Altındağ erinnert daran, dass die Aktion von vier Familien gestartet wurde. Sie protestierten, um den Tod ihrer inhaftierten Angehörigen zu verhindern. Mit der Zeit stieg die Zahl der protestierenden Familien immer weiter. Altındağ berichtet von Gesprächen mit vielen Nichtregierungsorganisationen und politischen Parteien, aber ihre Stimmen blieben immer noch ungehört.
„Wir konnten unsere Angehörigen nicht mehr erkennen“
Altındağ erinnert an den Anfang der Mahnwache: „Nach der Pandemie wurden Besuche im Gefängnis wieder erlaubt, und ich hatte die Gelegenheit, unsere inhaftierten Angehörigen zu besuchen. Es war, als wären sie durch andere ersetzt worden; ich konnte sie nicht wiedererkennen, sie waren so schwach, dass es unmöglich war, sie zu erkennen. Also beschlossen wir vier Familien, die sich auf dem Weg zu den Besuchen trafen, zur Anwaltskammer zu gehen. Wir wollten dort einen Sitzprotest starten. Wir sagten uns, sie kennen ja das Recht. Auf diese Weise dachten wir, könnten wir uns Gehör verschaffen.“
„Aktiv werden, statt auf Todesnachrichten zu warten“
Anstatt zu Hause zu sitzen, um die Angehörigen zu weinen und auf die Todesbotschaft zu warten, habe man sich entschlossen, selbst aktiv zu werden: „Als wir mit dieser Aktion begannen, gab es keine derartige Anhäufung von Nachrichten über Todesfälle in den Gefängnissen. Hätte man, als wir anfingen, auf uns gehört und Maßnahmen ergriffen, wären diese Menschen nicht in den Gefängnissen gestorben.“
„Die Politiker hielten nicht Wort“
Altındağ erklärt, dass das Leben als Angehörigenfamilie sehr schwierig sei: „Wir leben jeden Moment in Angst, eine Todesnachricht zu erhalten. Aus diesem Grund gibt es keinen Ort, an dem wir im Rahmen der Mahnwache für Gerechtigkeit, die wir seit fast einem Jahr durchführen, nicht protestiert haben. Wir sind auch nach Ankara gereist und haben uns mit politischen Parteien getroffen.“ Altındağ sagt, dass sie sich mit allen Parteien, mit Ausnahme der AKP und der MHP, getroffen hätten. Diese hätten Versprechungen gemacht, die Anliegen der Angehörigen so bald wie möglich ins Parlament einzubringen. Aber es sei bei leeren Versprechungen geblieben: „Keine von ihnen trat für uns ein. Wenn das anders gewesen wäre, wären nicht so viele der kranken Gefangenen gestorben.“
„Der Staat will, dass sie sterben“
Altındağ erinnert daran, dass früher die Freilassung von fünf oder sechs Gefangenen in Ankara außer Vollzug gesetzt worden sei: „Aber heute werden hunderte Gefangene nicht entlassen, weil ihre Freilassung außer Vollzug gesetzt wurde. Sie werden im Gefängnis festgehalten, obwohl sie freigelassen werden müssten. Das sage ich voll Trauer insbesondere in Bezug auf die kranken Gefangenen. Es ist, wie ich gesagt habe. Wir wissen, dass der Staat sie niemals freilassen wird.“
Der Staat wolle den Tod der Gefangenen, warnt Altındağ und fährt fort: „Heute ist die Zahl der schwerkranken Gefangenen sehr hoch. Das ist ein sehr schlechtes Gefühl. Man hat sogar Angst, ans Telefon zu gehen. Wir haben Angst, wenn uns eine unbekannte Nummer anruft.“
Altındağ sieht dahinter ein politisches Problem: „Ein Staat sollte tun, was seine Aufgabe ist, und nicht die Kurden vernichten. Heute würde ich einen Staat, der Menschen auf diese Weise in Haft quält und unterdrückt, nicht mehr als Staat bezeichnen. Das zeigt einfach nur, dass sich dieser Staat selbst erledigt hat. Wir wollen, dass das gilt, was Recht und Gesetz ist. Das ist es, was sich für einen Staat gehört. Ein Staat wird durch Gerechtigkeit zu einem solchen. Nichts anderes ist unsere Forderung. Aber heute nennt man uns und unsere Kinder ‚Terroristen‘. Dabei ist die Regierung der größte Terrorist. Denn sie spielt mit dem Staat. Sie spielt mit dem Gesetz. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder sterben. Deshalb wollen wir, dass die Zivilgesellschaft, die politischen Parteien und die Gesellschaft mit uns zusammenstehen. Seit 30 Jahren fahren wir immer wieder zum Gefängnis. Wir haben viele Menschen dort gesehen. Wenn wir heute verfolgt werden, werden morgen alle verfolgt werden.“
„Unternehmt etwas, bevor es weitere Tote gibt“
Altındağ erinnert daran, dass ihr Bruder das einzige Familienmitglied sei, das noch im Gefängnis sitze. Sie kämpfe darum, ihn nicht zu verlieren: „Ich habe niemanden mehr, ich habe nur noch einen Bruder. Er befindet sich seit 30 Jahren im Gefängnis. Ich will nicht, dass er stirbt.“ Altındağ fordert alle, die sich als „Menschen bezeichnen“, auf, ihrem Hilferuf eine Stimme zu verleihen: „Wir wollen nichts anderes als das. Unser Protest wird weitergehen, bis unsere kranken Gefangenen freigelassen und die Vollzugsgesetze abgeschafft werden.“
Altındağ kündigt an, den Protest unter jeder Bedingung fortzusetzen: „Ich hoffe, dass es nicht zu lange dauert und wir wieder mit unseren Verwandten vereint werden. Die Gefangenen sollten freigelassen werden, bevor es zu mehr Toten kommt. Die politischen Parteien sollten dies jetzt auf ihre Agenda setzen, nicht erst, wenn noch mehr Menschen sterben.“