Der Menschenrechtsverein IHD hat beschlossen, mit wöchentlichen Solidaritätswachen die Samstagsmütter in ihrem Kampf um Gerechtigkeit für ihre in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Angehörigen zu unterstützen. Hintergrund ist die gewaltsame Verhinderung der wöchentlichen Sit-ins der Initiative auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul, wie der Vorstand des IHD in Ankara mitteilte.
Seit Monaten werden die Mahnwachen der Samstagsmütter entgegen einem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, das die Versammlungsfreiheit betonte und die Behörden anwies sicherzustellen, dass „die Verletzung des Rechts in Zukunft verhindert wird“, von der Polizei unterbunden oder aufgelöst, Beteiligte werden gewaltsam festgenommen. Bei der letzten Zusammenkunft der Initiative hatte die Polizei gestern 24 Mitglieder und Unterstützende der Initiative vorübergehend in Gewahrsam genommen und Medienschaffende gewaltsam an der Dokumentation gehindert.
„Solange die Zusammenkünfte der Samstagsmütter auf dem Galatasaray-Platz rechtswidrig eingeschränkt werden und die Teilnehmenden ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht ausüben können, werden wir vor jeder unserer insgesamt 35 Vertretungen und Zweigstellen im Land verschiedene Aktionen wie Mahnwachen, Kundgebungen und öffentliche Presseerklärungen veranstalten“, erklärte IHD-Sekretär Hüseyin Küçükbalaban. Der Menschenrechtler forderte die Behörden zudem auf, dafür zu sorgen, das Schicksal der Vermissten aufzuklären, die Verantwortlichen des Verschwindenlassens in staatlichem Gewahrsam strafrechtlich zu verfolgen und die derzeitige Straflosigkeit zu beenden. „Das ist die primäre Pflicht des Staates und nicht die Unterdrückung dieser Forderung“, so Küçükbalaban.
Die Solidaritätswachen des IHD sollen aber nicht nur den Kampf auf dem Galatasaray-Platz unterstützen, sondern auch die Aktionen „Verschwundene finden, Täter verurteilen!”, die von Vermisstenangehörigen in der Tradition der Istanbuler Samstagsmütter in verschiedenen kurdischen Städten Woche für Woche initiiert werden, um Gerechtigkeit für ihre in Polizeigewahrsam „verschwundenen“ Männer, Frauen, Söhne, Töchter oder Kinder zu fordern. Jede Woche wird in Amed (tr. Diyarbakir) und anderen Städten ein anderer Fall vorgestellt, vor allem aus den neunziger Jahren, als das gewaltsame „Verschwindenlassen“ besonders weit verbreitet war. Mit diesen Aktionen wird versucht, diese Menschenrechtsverletzungen im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten und eine strafrechtliche Ahndung des Verbrechens zu erwirken.
Die längste Aktion des zivilen Ungehorsams in der Türkei
Im Schneidersitz niedergelassen demonstrierten die Samstagsmütter am 27. Mai 1995 auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul zum ersten Mal. Es waren Angehörige, Freund:innen und Anwält:innen des zu dem Zeitpunkt bereits von der Polizei zu Tode gefolterten Hasan Ocak, die Aufklärung über den Verbleib des kurdischen Lehrers forderten. Die beim ersten Zusammentreffen eine Handvoll Menschen zählende Gruppe wuchs mit jeder folgenden Woche, inzwischen steht der Name der Samstagsmütter synonym für die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei. Einem Land mit etwa 17.000 Opfern ohne Täter, die der Staat zwischen 1984 und 1999 verschwinden ließ. Viele sind in Untersuchungshaft „verschollen“, andere auf offener Straße ermordet worden.
Galatasaray-Platz seit 2018 Sperrzone für Samstagsmütter
Als die Mahnwache am 25. August 2018 zum 700. Mal stattfand, löste die Polizei den mehrheitlich von Frauen organisierten friedlichen Protest mit Tränengas, Plastikgeschossen und Wasserwerfern auf. Seitdem verhindern die türkischen Behörden die Versammlungen der Gruppe, deren Mitglieder teilweise über 80 Jahre alt sind, obwohl diese immer friedlich waren und nie zu Gewalt aufriefen. Am 23. Februar 2023 erschien dann im türkischen Staatsanzeiger ein Urteil des Verfassungsgerichts, wonach Verbote von Mahnwachen der Samstagsmütter im Widerspruch zum Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit stehen. Das höchste Gericht verwarf damit einen Einwand des Innenministeriums, das den „Schutz der öffentlichen Ordnung“ durch die Samstagsmütter bedroht sieht. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in Artikel 34 der türkischen Verfassung, gegen den die Sicherheitsbehörden mit ihrer Verbotsverfügung für die gewaltsam aufgelöste Aktion der Samstagsmütter im August 2018 und alle folgenden verstoßen haben. Die Blockade des Platzes sei damit hinfällig.
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde von Maside Ocak
Mit dem Urteil hatte die Verfassungsbeschwerde von Maside Ocak Kışlakçı Erfolg, die damals zusammen mit ihrer Mutter Emine Ocak gewaltsam festgenommen und mit auf dem Rücken gefesselten Händen über den Boden geschleift worden war. Kışlakçı stammt ursprünglich aus Dersim und ist die Schwester von Hasan Ocak. Inzwischen liegt auch eine zweite Entscheidung des Verfassungsgerichts zugunsten der Samstagsmütter vor. Doch das Innenministerium und alle dem Ressort unterstehenden Sicherheitsbehörden widersetzen sich dem Urteil. Seit dem 8. April dieses Jahres wurde jede Mahnwache der Initiative auf dem Galatasaray-Platz verhindert.