Amed: „Verschwundene finden, Täter verurteilen”

Am 13. November 1994 wurde Ali Tekdağ in Amed vor den Augen seiner Ehefrau von Polizisten verschleppt. Sechs Monate dauerte sein Martyrium in verschiedenen Foltergefängnissen an. Zum Schluss wurde er erschossen, verbrannt und in einen Fluss geworfen.

In der Tradition der Istanbuler Samstagsmütter kommen auch in Amed (türk. Diyarbakir) Woche für Woche Vermisstenangehörige zusammen, um Gerechtigkeit für ihre in Polizeigewahrsam „verschwundenen“ Männer, Frauen, Söhne, Töchter oder Kinder zu fordern. Jede Woche wird ein anderer Fall vorgestellt, vor allem aus den neunziger Jahren, als das „Verschwindenlassen“ besonders weit verbreitet war. Mit dieser Aktion, die das Motto „Verschwundene finden, Täter verurteilen!” trägt, wird versucht, diese Menschenrechtsverletzungen im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten und eine strafrechtliche Ahndung des Verbrechens zu erwirken.

An diesem Samstag fand mittlerweile die 614. Mahnwache in Amed statt – coronabedingt über das Internet. Die Aktionen der Angehörigen von Verschwundenen aus der kurdischen Widerstandshochburg werden von Beginn an zusammen mit der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD initiiert. Thema der heutigen Zusammenkunft war das Schicksal von Ali Tekdağ. Der Menschenrechtler Hasan Yalçın erinnerte an seine Geschichte und zitierte aus einem Interview von Hatice Tekdağ, der Ehefrau von Ali Tekdağ:

Verweigerung des Vergessens

„Es war der 13. November 1994, ein Sonntag. Wir waren im Altstadtbezirk Sûr unterwegs, unweit des Dağkapı-Platzes, als wir merkten, dass uns Polizisten folgten. Irgendwann sagte Ali, ich solle fünf Minuten auf ihn warten, er hätte etwas zu erledigen. Wenig später sah ich ihn schon rennen, die Polizisten liefen ihm hinterher. In einer kleinen Seitenstraße sah ich, wie sie ihn packten, ihm die Jacke über den Kopf rissen und eine Pistole an seinen Kopf hielten. Sie zogen ihn in einen Hauseingang. Ich konnte sehen, wie sie ins Funkgerät sprachen, und rannte hin, als auch schon ein weißer Wagen um die Ecke kam, und mit meinem Mann davonfuhr.

Ich ging sofort zum Polizeipräsidium, um zu fragen, wohin mein Mann gebracht worden war. Ich erzählte, was ich gesehen hatte, aber die Polizeibeamten behaupteten, dass Ali nicht dort sei. Sie sagten sogar, dass es sich bei den Personen vermutlich gar nicht um Polizisten gehandelt habe und fragten, warum ich nicht sofort die Polizei gerufen hätte. Ich blieb dabei, dass es Polizeibeamte waren, die ihn mitgenommen hatten, da sie Waffen und Funkgeräte bei sich trugen. Und da es vor einer Bank (Şekerbank) passierte, wo viele Polizisten waren, die ja sonst eingegriffen hätten, konnte es nur die Polizei selbst sein.”

Mahnwache für Ali Tekdağ am 16. November 2019 in Amed

Schon in der „Hölle Nr. 5” gefoltert

Ali Tekdağ wurde 1956 im Bezirk Karaz (Kocaköy) im Nordosten von Amed geboren. Knapp zwei Jahre nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurde der siebenfache Vater verhaftet und wegen fadenscheinigen „Terrorvorwürfen” zu einer fast siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Nachdem er den Großteil der Strafe im Gefängnis von Amed, das durch brutale Foltermethoden den Namen „Die Hölle von Diyarbakir“ oder „Hölle Nr. 5” (ein Sondertrakt des damaligen Militärgefängnisses, in dem die Folter und Entwürdigung besonders barbarisch waren) erhielt, abgesessen hatte, wurde er 1986 entlassen. In Ruhe gelassen wurde Ali Tekdağ jedoch nicht. Immer wieder überfielen Polizei- und Militärkräfte seine Wohnung, weil sie ihn als Agenten anwerben wollten. Im Zeitraum zwischen der Haftentlassung und seinem Verschwinden wurde Ali Tekdağ insgesamt neunzehn Mal auf die Polizeiwache verschleppt. Diverse Male ist die Wohnungseinrichtung bei seinen Festnahmen von Polizisten oder Soldaten zerschlagen worden.

Nach der letzten Festnahme von Ali Tekdağ ist seine Ehefrau noch ganze zwei Monate immer wieder zum Polizeipräsidium gegangen, um nach ihrem Mann zu fragen – manchmal auch in Begleitung ihrer Schwiegermutter. Einmal habe sie sich so heftig mit einer Polizistin gestritten, dass sie in der Folge festgenommen wurde. Als sie dem Staatsanwalt vorgeführt wurde und ihre Geschichte erzählte, habe dieser gesagt: „Wenn du einen Zeugen findest, glauben wir es.” Hatice Tekdağ entgegnete: „Ich bin doch die Zeugin”, ermittelt wurde dennoch nicht.

Zeuge der Folter meldet sich zu Wort

Bald darauf erschien in der Özgür Gündem, die als einzige Zeitung schwerpunktmäßig über den Krieg in Kurdistan berichtete – und mittlerweile per Staatsdekret verboten wurde – ein Brief von einem Seyfettin Demir, der damals im Gefängnis in Amed inhaftiert war. In dem Brief schrieb Demir, dass er auf derselben Polizeidirektion in Gewahrsam war, in der er Ali Tekdağ schreien hörte: „Sie wollen mich verschwinden lassen, sagt meiner Familie Bescheid!“ Hatice Tekdağ ließ den Brief über die Rechtsanwaltskammer zur Staatsanwaltschaft weiterleiten. Nachdem die Behörde überprüft hatte, ob zum genannten Zeitpunkt ein Seyfettin Demir festgenommen wurde, kündigte die Staatsanwaltschaft umfassende Untersuchungen zum Verbleib von Ali Tekdağ an. Hatice Tekdağ besuchte Seyfettin Demir in Haft, um sich die Begegnung mit ihrem Mann bestätigen zu lassen. Ab dem Zeitpunkt bekam sie von der Staatsanwalt keine Nachricht mehr.

Eine ganze Weile später erhielt Hatice Tekdağ einen anonymen Anruf. Ihr wurde gesagt: „Kauf dir heute die Evrensel.“ In der Zeitung war ein Bericht über einen hochrangigen Polizeibeamten, der bei einem psychologischen Gespräch ausgesagt hatte, Ali Tekdağ in vier verschiedenen Polizeistationen in Amed und Erzîrom (Erzurum) gefoltert zu haben. Sein Martyrium habe etwa sechs Monate gedauert – immer wieder seien ihm Spritzen gegeben worden, damit er weiterlebt, Haare und Bart wären schon zusammengewachsen gewesen. Zum Schluss hätten sie Ali Tekdağ erschossen, verbrannt und in einen Fluss geworfen. „Wir wollten ihn zum Reden bringen, aber er hat bis zum Ende nichts gesagt“. Dieser Polizeibeamte im Rang eines Offiziers sagte dann noch aus, dass außer ihm noch Alaattin Kanat (gilt als Planer des Mordes an Musa Anter) und zwei andere Personen beteiligt gewesen seien. Sie hätten dem Gouverneur jeden Tag über die Folterungen Bericht erstatten müssen. Zum Schluss sei er dann „durchgedreht“. Die Gebeine von Ali Tekdağ, dessen Bruder Mehmet ebenfalls von staatlichen Kräften extralegal hingerichtet wurde, sind bis heute nicht gefunden worden.

EGMR verurteilt Türkei

Im Fall von Ali Tekdağ wurde die Türkei im Januar 2004 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt (Hatice Tekdağ vs. Turkey, no.27669/95, 15 January 2004.). Vor der türkischen Justiz bleibt der Mord noch immer ungesühnt.