Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als „verschwunden”. Mit der Praxis des „Verschwindenlassens” machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte - während dieser dunklen Periode unter Ministerpräsidentin Tansu Çiller aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.
Synonym für das Schicksal der Verschwundenen stehen die Istanbuler Samstagsmütter, die seit 1995 analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” Woche für Woche in Istanbul in Sit-Ins mit Bildern ihrer Angehörigen gegen deren „Verschwindenlassen“ protestieren und Aufklärung über deren Verbleib fordern. Anlässlich des internationalen Tages der Opfer des Verschwindenlassens am 30. August, auch bekannt als Tag der Verschwundenen, forderte die Initiative bei ihrer mittlerweile 805. Aktion an diesem Samstag die Regierung, insbesondere Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf, das Unrecht den Samstagsmüttern gegenüber zu beenden und ihnen Gewissheit über das Schicksal ihrer Familienangehörigen zu verschaffen. Die Mahnwache fand Corona-bedingt wieder virtuell statt, eröffnet wurde sie mit einer Ansprache von Jiyan Tosun. Sie war erst sechs Jahre alt, als ihr Vater Fehmi im Oktober 1995 von Polizisten in einen Wagen gezerrt und entführt wurde. Seitdem gilt er als verschwunden.
„Der türkische Staat weigert sich, die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen (CPED) zu unterschreiben. Das hängt damit zusammen, dass er seine Vergangenheit nicht aufarbeiten will. Er möchte sich den Verbrechen, die unter seiner Verantwortung begangen wurden, nicht stellen. Stattdessen werden die Akteure von damals gedeckt”, sagt Tosun. Sie werde solange weiterkämpfen, bis die Verantwortlichen vor Gericht gebracht und für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.
Hasan Karakoç, ein Bruder von Rıdvan Karakoç, der im Februar 1995 verschwand, nachdem er zur Polizei gebracht worden war, und dessen Tod durch Folter nur durch Zufall ans Licht kam, sagte: „Diejenigen, die wir verloren haben, waren Väter, Brüder, Ehemänner, Freunde und Verwandte. Sie wurden von staatliche Kräften aus ihren Häusern oder Autos, von der Straße oder aus Bussen verschleppt und durch Folter verschwunden gelassen. Die meisten von ihnen haben noch nicht einmal ein Grab. Wir als ihre Angehörigen und Hinterbliebenen werden von dem Schmerz beherrscht, nicht zu wissen, was unseren Liebsten geschah. Unser Leben dreht sich um die Frage, wo sie sich befinden. Unsere Forderungen sind klar und präzise: Der Staat muss das Schicksal der Verschwundenen aufklären.”
Die Unsicherheit, nicht in der Lage zu sein, die Wahrheit zu erfahren, das Warten, das durch diese Unsicherheit verursacht wird, die tiefe Leere, die durch die Unfähigkeit entsteht, Gerechtigkeit zu erreichen, macht das Leben verlorener Familien zur Hölle, sagte Fatma Şimşek. Ihre Schwester Ayşenur, eine Apothekerin, wurde im Januar 1995 in Ankara von der Konterguerilla verschleppt. Trotz aller Bestrebungen und reichlich gestellter Gesuche gab es von offizieller Seite keinen Hinweis zu ihrem Verbleib. Die Sicherheitsbehörden erkannten ihre Festnahme nicht an, obwohl gegen sie ein Haftbefehl vorlag. Vier Tage nach ihrer Entführung fand man Ayşenur Şimşeks entstellte Leiche im etwa hundert Kilometer entfernten Kırıkkale an einem Straßenrand.
„Wir fordern die Justizbehörden auf, unabhängig und mutig zu sein, die Verantwortlichen des Verschwindenlassens in Polizeigewahrsam strafrechtlich zu verfolgen und die derzeitige Straflosigkeit zu beenden“, sagte Şimşek. Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte ruft sie zur Praktizierung ihrer Prinzipien auf: „Sie müssen praktische Maßnahmen gegen diese schwerwiegenden Verstöße gegen die Menschenrechte ergreifen. Das wichtigste ist aber, dass der Staat unverzüglich die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen unterschreibt und ratifiziert.”