„Verbrechen gegen die Menschlichkeit können nicht verjähren“

Das Thema der heutigen Veranstaltung der Initiative der Samstagsmütter war der Mord an Süleyman Cihan. Der Lehrer aus Dersim war nach Ibrahim Kaypakkaya der zweite Generalsekretär der TKP/ML. 1981 wurde er festgenommen und in Gewahrsam zu Tode gefoltert.

Zum 801. Mal sind die Istanbuler Samstagsmütter zusammengekommen, um nach dem Verbleib ihrer vermissten Angehörigen zu fragen und eine Bestrafung der für das „Verschwindenlassen“ Verantwortlichen zu fordern. Seit Beginn der Corona-Pandemie finden die Aktivitäten der Initiative, die im Juni ihr 25-jähriges Bestehen begangen hat, nur noch digital statt. Bei der Online-Veranstaltung traten als Redner*innen Süleyman Cihans Bruder Ahmet Cihan, der Anwalt Aydın Erdoğan und Aysel Ocak, deren Bruder Hasan Ocak nach seiner Festnahme am 21. März 1995 verschwunden ist und dessen Leiche später in einer anonymen Grabstätte beerdigt wurde, auf.

Die Geschichte von Süleyman Cihan

Der 1950 in Dersim geborene Süleyman Cihan war Lehrer und nach Ibrahim Kaypakkaya der zweite Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Türkei / Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML). Am 29. Juli 1981 wurde er auf dem Weg nach Istanbul bei einer Verkehrskontrolle von Zivilfahndern festgenommen. Obwohl Cihan einen falschen Ausweis bei sich hatte, konnte die Polizei ihn noch am Ort der Festnahme identifizieren – weil er von einer Überläuferin denunziert worden war. Seine Familie schaltete sofort Rechtsanwälte ein, nachdem eine Zeugin sie über den Vorfall informiert hatte, aber die Behörden leugneten, Cihan festgenommen zu haben. Für die Zeit nach seiner Festnahme, in der er sich auf einer Odyssee durch Folterkammern und Verhörstuben befand, gibt es insgesamt 23 Augenzeugen. Auch gibt es Zeugen, die gesehen haben, wie der tote Körper von Süleyman Cihan von Polizisten aus einem Hochhaus in Kadiköy geworfen wurde. Nachdem der Vater von zwei Kindern zu Tode gefoltert worden war, hatten die Behörden es so aussehen lassen wollen, dass Cihan Selbstmord begangenen habe. Bevor er auf einem „Friedhof für Namenlose“ begraben wurde, fand eine Autopsie des Leichnams statt. Kürşat Istanbullu beschreibt in seinem Buch Verhaftet und Verschwunden: Türkei heute: Beispiel einer ‚wehrhaften Demokratie‘ die näheren Umstände der Festnahme Cihans und seines Todes. Darin heißt es:

„Die erste Eintragung in das Protokollbuch, in dem sich auch die Unterschriften mehrerer hochgestellter Istanbuler Polizeibeamten befinden, stammt von dem Arzt Dr. Metin Bulut:

‚Ich habe die mir vorgeführte männliche Leiche untersucht … Sie wies unter beiden Achseln Rissquetschwunden und Blutergüsse, an der linken Schulter einen großen Bluterguss und am linken Ellenbogen Rissquetschwunden auf. An der Innenseite des linken Ellenbogens und an beiden Fußgelenken befinden sich ebenfalls Blutergüsse, und am Ende des Penis sind Male zu sehen, die auf Brandnarben schließen lassen.‘

Weiterhin wird in dem Bericht darauf aufmerksam gemacht, dass die Person für einen Sturz aus dem Fenster des oberen Stockwerkes erstaunlich wenig Blut verloren habe. Erst der Autopsiebericht könne eine eindeutige Klärung der Frage herbeiführen, ob der Tod vor dem Sturz oder durch ihn erfolgt sei.“

Einige der Zeugenaussagen lauteten wie folgt:

„… ungefähr um Mitternacht holten sie mich zur Gegenüberstellung mit Süleyman Cihan. Ich konnte ihn identifizieren. Süleyman lag regungslos am Boden und sah aus, als sei er nicht imstande, auch nur ein einziges Glied zu bewegen. Ich konnte nicht feststellen, ob er noch lebte oder nicht …“ (Aussage des Gefangenen Halil Gündoğan in der Akte Süleyman Cihan, 2. Militärgericht Istanbul)

„Süleyman Cihan wurde nachts gebracht und an eine Bank gefesselt. Er war nur noch ein Stück rohes Fleisch. Ein Polizist rief ununterbrochen seinen Namen, um zu sehen, ob er noch lebte. Süleyman war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot gewesen oder er starb gerade in diesem Augenblick. Später trugen sie ihn zusammen mit der Bank wieder weg.“ (Aussage des Gefangenen Binali Şahin in einem Schreiben an die Rechtsabteilung der Kriegsrechtskommandantur)

„Ich glaube, es war die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag am 28., 29. oder 30. Juli. Ich befand mich in einer Zelle des 1. Traktes der Abteilung 2 des Istanbuler Polizeipräsidiums. Um Mitternacht hörte ich, wie jemand in unseren Korridor gebracht wurde. Ein Polizist rief ununterbrochen den Namen Süleyman. Als diesem Rufen mit dünner gebrochener Stimme geantwortet wurde, merkte ich, dass es sich um Süleyman Cihan handelte. Er antwortete dem Soldaten nur, dass er nicht reden könne. Außerdem verlangte er ständig Wasser, was er schließlich auch bekommen haben muss, denn ich hörte den Soldaten sagen: ‚Es reicht, mehr Wasser schadet dir nur.‘ Dann verlangte er, auf die Toilette gebracht zu werden, was ihm der Polizist verwehrte. Dann muss der Polizist wohl gegangen sein, denn es wurde sehr laut gerufen: ‚Ich bin Süleyman Cihan, ist jemand hier?‘ Ich antwortete ihm und sagte meinen Namen. Dann sagte er noch, dass die Frau Hıdır Ayataş ihn der Polizei in die Hände gespielt habe. Das letzte was ich von ihm hörte war: ‚Damit ihr Bescheid wisst, ich konnte nicht mehr fliehen, wurde festgenommen, und jetzt wollen sie mich umbringen.‘ Naci Karabulut aus der Nebenzelle hat durch das Schlüsselloch gesehen, wie sie ihn in den frühen Morgenstunden wieder abholten.“ (Aussage des Gefangenen Mehmet Ali Kankotan vor dem stellvertretenden Militärstaatsanwalt)

„Ich lag verwundet in meiner Zelle und konnte mich nur unter großen Schwierigkeiten bewegen. Gegen Mitternacht brachten die Polizisten jemanden, der mit Ketten an eine Bank gefesselt war. Sie ließen die Bank in einer Ecke der Zelle stehen und gingen wieder. Ich versuchte mit dem Mann zu reden, aber außer einem leisen Wimmern brachte er nichts heraus. Sein Zustand war sehr schlecht. Er hing völlig bewegungslos auf der Bank und konnte nicht sprechen. Ab und zu kamen die Soldaten und schrien ihn an: ‚Süleyman los, mach kein Theater!‘“ (Aussage des gefangenen Mustafa Yıldırımtürk)

Endstation: Friedhof der Namenlosen

Nach dem misslungenen Selbstmord blieb den Sicherheitskräften nur noch die Möglichkeit, die Identität Süleyman Cihans zu verschleiern. Über einen unbekannten Toten, nach dem niemand fragt, braucht man auch keine Rechenschaft abzulegen. So hatte Süleyman Cihan nun seinen Platz in der Akte der Vermissten. Die Standardantwort an seine Angehörigen war auch schon vorbereitet: „Nach ihm wird noch gefahndet.“

Aber sein Vater Aga Cihan gab nicht auf – und fand seinen Sohn tatsächlich eines Tages beim Durchblättern des Registers unbekannter Toter. Mit der langen verzweifelten Suche endete so auch die letzte Hoffnung Aga Cihans. Sein Sohn war nicht mehr vermisst. Er war tot – ermordet. Jetzt kam es dem alten Mann darauf an, die schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Fünf Rechtsanwälte unterstützten ihn. Sie reichten Klage gegen die Mörder Süleyman Cihans ein, aber das Verfahren endete mit der Einstellung der Ermittlungen. 2012 wurde ein Antrag auf Wideraufnahme wegen Verjährung abgewiesen.

„Das Verschwindenlassen von Süleyman Cihan reiht sich ein in eine lange Kette von Verbrechen, die in diesem Land gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Und wie es bei Völkermord und Kriegsverbrechen der Fall ist, tritt auch bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Verjährung ein”, sagt Aysel Ocak. Sie verlangt die strafrechtliche Ahndung von Tätern, die verantwortlich für das „Verschwindenlassen“ tausender Menschen sind. „Egal, wie viele Jahre noch vergehen müssen, bis uns Gerechtigkeit widerfährt. Unser Kampf wird weitergehen, koste es, was es wolle.“

„Sie haben ihn gebracht und in das Hochhaus geschleppt; ein paar Anwohner, die aus dem Fenster schauten, sind von ihnen verscheucht worden. Insgesamt haben sie sich bemüht, keinen Krach zu machen. Es war eindeutig, dass der Mann, den sie schleppten, tot war. Ein Teil der Gruppe wartete vor dem Haus, die anderen gingen hinein. Die vor dem Haus starrten ununterbrochen nach oben.“ Aussage eines Zeugen aus „Verhaftet und Verschwunden: Türkei heute: Beispiel einer ‚wehrhaften Demokratie‘“