„Gegen Hoffnungslosigkeit hilft nur der Optimismus des Kampfes“

Kumi Naidoo ist Generalsekretär von Amnesty International. Lange Jahre kämpfte er in Südafrika gegen die Apartheid. Am Rande einer Mahnwache der Istanbuler Samstagsmütter haben wir mit ihm gesprochen – über Mut, Hoffnungslosigkeit und gemeinsame Kämpfe.

Als die Initiative der Samstagsmütter auf ihrer 763. Mahnwache in Istanbul nach dem Verbleib ihrer Angehörigen fragte, stach eine anwesende Person besonders hervor: Kumi Naidoo, Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Der Südafrikaner indischer Abstammung setzt sich wie die Initiative, die aus Müttern und Angehörigen von Personen besteht, die von staatlichen Sicherheitskräften der Türkei in den 1990er Jahren festgenommen wurden und bis heute als „Verschwundene“ gelten, für soziale Gerechtigkeit ein. 1965 in der Küstenstadt Durban geboren, hat Kumi Naidoo als Kind Rassentrennung und Ungerechtigkeiten am eigenen Leib erfahren. Mit 15 Jahren wurde er wegen seiner Proteste gegen die Apartheid von der Schule verwiesen. Danach engagierte er sich in seiner örtlichen Gemeinschaft gegen das Regime und organisierte Massenproteste. Mehrfach wurde er festgenommen und Opfer von Polizeigewalt. Mit 21 Jahren ging er ins britische Exil, um einer langjährigen Haftstrafe zu entgehen. Man warf ihm vor, die Regeln des Ausnahmezustands verletzt zu haben.

Nach der Freilassung des Führers der Befreiungsbewegung African National Congress (ANC) Nelson Mandela und dem Ende des Apartheid-Regimes kehrte Naidoo 1990 nach Südafrika zurück. Er arbeitete zwar für den ANC, eine politische Karriere verfolgte der promovierte Politikwissenschaftler aber nicht. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Arbeit an der Basis. Aufgrund der langjährigen systematischen Bildungsbenachteiligung der diskriminierten Bevölkerungsgruppen setzte sich Naidoo zunächst dafür ein, die ethnischen Grenzen im Schulalltag zu durchbrechen. In kaum einem anderen Bereich manifestieren sich die Auswirkungen der Apartheidpolitik so deutlich wie im Bildungswesen. Bis Anfang der 1990er Jahre herrschte in allen Bildungszweigen eine strikte ethnische Trennung, was sich besonders auf Unterrichtsqualität und vor allem das Bildungsniveau im Allgemeinen auswirkte. Besonders gravierend waren die Bildungsunterschiede zwischen schwarzer und weißer Bevölkerung. Naidoo organisierte auch Alphabetisierungskampagnen für Erwachsene sowie Wählerschulungen, um Personengruppen zu stärken, die systematisch in der Geschichte Südafrikas entrechtet worden waren. „Aber der langjährige Traum Nelson Mandelas, für Südafrika demokratische Verwaltungsstrukturen aufzubauen, konnte noch immer nicht verwirklicht werden. Zum einen liegt es am Ausmaß der Korruption, zum anderen an der Ungleichheit im Wirtschaftssystem“, erklärt Naidoo.

763. Mahnwache der Samstagsmütter, 9. November 2019, Istanbul

Ähnlichkeiten zwischen Apartheid-Regime und AKP-Regierung

Als Gründungsdirektor eines Dachverbands von Nichtregierungsorganisationen (SANGOCO) setzte sich Kumi Naidoo zudem intensiv für die Bewahrung des traditionellen kulturellen Erbes in Südafrika ein. Auch engagierte er sich für die Rechte von Kindern und Frauen. Seit Ende der 1990er Jahre beteiligt er sich an weltweiten Kampagnen gegen Hunger, für Menschenrechte, Bürgerbeteiligung, zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und Klimaschutz. Von November 2009 bis Dezember 2015 war er Direktor von Greenpeace. Er war der erste Afrikaner an der Spitze der Organisation. Seit August 2018 ist er Generalsekretär von Amnesty International.

„Das derzeitige Regierungsmodell in der Türkei zeigt viele Gemeinsamkeiten mit dem Apartheid-Regime Südafrikas“, sagt Naidoo. Insbesondere die Einschränkung der Meinungsfreiheit, des Demonstrations- und Versammlungsrechts und der Organisationsfreiheit sowie die Repression gegen die freie Presse seien erschreckend. Wie ernst die Lage hinsichtlich der Demonstrationsfreiheit ist, verdeutlicht Naidoo am Beispiel der Samstagsmütter. Seit Monaten wird die Initiative daran gehindert, ihre wöchentlichen Kundgebungen auf dem angestammten Galatasaray-Platz an der belebten Istiklal-Caddesi durchzuführen. Stattdessen finden die Aktionen in einer Seitenstraße im Polizeikessel statt. „Der Grund ist offensichtlich: die Angehörigen der Verschwundenen sollen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden. Auch die Zivilgesellschaft steht unter massivem Druck. Zahlreiche NGOs wurden bereits verboten, ihre Mitarbeiter sitzen im Gefängnis“, so der Bürgerrechtler.

Mut der Samstagsmütter ist beeindruckend

Naidoo kommt nochmal auf die Samstagsmütter zu sprechen. Ihr Kampf für Gerechtigkeit sei bewundernswert, sagt er. „Ich bin tief beeindruckt von ihrem Mut und ihrem Kampf, an dem sie seit Jahren beharrlich festhalten. In unserem Land sind ebenfalls viele Menschen nach der Festnahme verschwunden. Meine beste Freundin Zandi und andere Genossen von mir wurden von der Polizei getötet. Ich weiß also, wie schmerzhaft diese Verluste sind.

In Südafrika gab es eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, eine Einrichtung zur Untersuchung von politisch motivierten Verbrechen während der Zeit der Apartheid. Zandi, von der ich vorhin sprach, war 26 Jahre alt, als sie von Polizisten ermordet wurde. Wir hatten keine Ahnung, wo sich ihre Leiche befand. Erst durch die Arbeit dieser Kommission konnten wir in Erfahrung bringen, wo sie begraben wurde. Deshalb finde ich es so beeindruckend, dass die Samstagsmütter ihren Widerstand seit Jahren unbeirrt fortsetzen. Tief getroffen hat mich bei dieser 763. Kundgebung auch folgender Satz, der fiel: ‚Unser Schmerz verjährt nicht‘. Es waren Worte, die genau auf den Punkt bringen, was dieser Schmerz bedeutet“, erklärt Naidoo.

Kumi Naidoo

Kein kurdisches, sondern ein strukturelles Problem

Der Menschenrechtler äußert sich auch zu den Angriffen auf das kurdische Volk, dessen Identität jahrelang in der Türkei geleugnet wurde, das Opfer von Assimilation wurde und Massaker erleiden muss, weil es einen Kampf um seine Existenz führt. Naidoo berichtet von einer Reise in die selbstverwalteten Gebiete Nord- und Ostsyriens. Im Oktober habe er in Rojava die Städte Kobanê, Raqqa und Qamişlo besucht. Der Kampf der dortigen Kurden gegen das Assad-Regime für die Anerkennung ihrer Identität ist nicht neu, sondern hat historische Wurzeln, sagt Naidoo. Er unterstreicht, dass Amnesty International alle Formen von Rassismus ablehnt und erklärt: „Nach dem Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika dachten einige, dass auch der weltweite Rassismus beendet wurde. Die Realität sah anders aus. Kämpfe, die nationale und kulturelle Identität zur Grundlage haben, finden nach wie vor statt, und auch die Kurden führen ihn. Ich glaube nicht, dass es in der Türkei nur ein ‚kurdisches Problem‘ gibt. Es sieht eher nach einem strukturellen Problem aus. Denn ganz gleich, ob man Armenier, Türke oder Kurde, eine Frau oder LGBT-Person ist: niemand darf diskriminiert werden.“ Naidoo verurteilt zudem die staatliche Repression gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP). Dass demokratische gewählte Bürgermeister*innen abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt sowie HDP-Abgeordnete inhaftiert werden, sei äußerst besorgniserregend.

Wahrheits- und Versöhnungskommission, um Leid zu stillen

Um eine Gesellschaft zu heilen, müsse zunächst verstanden werden, was sie durchmacht und empfindet, meint Naidoo. Eine tragende Rolle spielten dabei die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen: „Regierungen müssen sich den Schmerzen und der Ungerechtigkeit der Vergangenheit stellen, um die Wunden zu heilen.“ Beide Seiten, also Opfer und Täter, müssten in einen Dialog treten, damit eine Grundlage für die Versöhnung geschaffen werden kann.

„Solche Versöhnungsprozesse gibt es auch in Ländern wie Kolumbien. In diesem Zusammenhang möchte ich an die Regierung der Türkei appellieren. Sie sollte sich diesem Prozess nicht enthalten und den Menschen stattdessen zeigen, dass es möglich ist, den Schmerz der Vergangenheit zu heilen. Das Transitional Justice Institute beispielsweise bietet Unterstützung im Bereich der Rechtstaatlichkeit und Übergangsjustiz. Die türkische Regierung muss offen für den Dialog mit Unterstützung internationaler Experten sein.“

Niemals die Hoffnung aufgeben

Seine eigenen Erfahrungen hätten ihm die Wichtigkeit dessen gezeigt, dass man die Hoffnung niemals aufgeben dürfte und den Pessimismus, der aus Ungerechtigkeiten resultiert, nur durch den Optimismus des Widerstands, der Auflehnung und des gemeinsamen Kampfes gegen das Unrecht besiegen könnte. „An unzähligen Orten der Welt werden Gerechtigkeitskämpfe für das Ende rassistischer Regime, Kolonialismus und Sklaverei geführt. Ausschlaggebend dabei ist aber, zusammen zu kommen und zu lachen, während man kämpft“, sagt Naidoo.

In Südafrika habe man erkannt, dass Humor den Kampf stärken kann. „Damals glaubten die Menschen nicht, dass Mandela 1990 das Gefängnis verlässt und sich irgendetwas in Südafrika verändern wird“, erinnert sich Naidoo. Aber gerade in kritischer Lage helfe Humor gegen das Gefühl der Machtlosigkeit. „Deshalb müssen wir unsere Hoffnung stets bewahren. Die Samstagsmütter fordern seit Jahren die Aufklärung der Schicksale ihrer verschwundenen Angehörigen. Ihr Widerstand ist das beste Beispiel dafür, die Hoffnung niemals aufzugeben. Ja, es ist ein langer Marathon, aber man muss daran glauben, dass sich etwas verändern wird.“