Samstagsmütter: Ohne Vergangenheitsaufarbeitung keine Demokratie
Die Samstagsmütter haben in Istanbul die Bestrafung der Mörder von Serdar Tanış und Ebubekir Deniz gefordert, die vor 18 Jahren verschwunden sind.
Die Samstagsmütter haben in Istanbul die Bestrafung der Mörder von Serdar Tanış und Ebubekir Deniz gefordert, die vor 18 Jahren verschwunden sind.
Erneut ist in Istanbul mit starker Polizeipräsenz die wöchentliche Demonstration der Samstagsmütter vereitelt worden. Die Mütter und ihre Unterstützer*innen wollten zum 723. Mal vor dem Galatasaray-Gymnasium im Stadtteil Beyoğlu zusammenkommen, um Gerechtigkeit für ihre verschleppten Angehörigen zu fordern, die im Polizeigewahrsam verschwundenen sind. Die Mahnwache der Samstagsmütter fand daher wie bereits in den vergangenen Wochen in einem Polizeikessel vor dem Gebäude des Menschenrechtsvereins IHD statt. An der Kundgebung nahmen auch die HDP-Abgeordneten Oya Ersoy und Garo Paylan sowie der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu teil.
Thematisiert wurde die Geschichte der am 25. Januar 2001 nach ihrer Festnahme in Silopiya (Silopi, Provinz Şirnex/Şırnak) „verschwundenen“ Vorstandsmitglieder der HADEP, Serdar Tanış und Ebubekir Deniz. Eine einleitende Erklärung wurde von Besna Tosun vorgetragen. Ihr Vater Fehmi Tosun wurde vor ihren Augen am 19. Oktober 1995 zusammen mit Hüseyin Aydemir von Polizisten in einen Wagen gezerrt und entführt. Damals war sie zwölf Jahre alt.
„Nur durch die Aufarbeitung der Vergangenheit und Bestrafung der Täter wird der Straflosigkeit ein Ende gesetzt. Diejenigen, die Verbrechen der Vergangenheit verschweigen, ebnen den Weg für neue. Die Leugnung und Straflosigkeit dieser Verbrechen ist der Grund für das Versagen der Demokratie in der Türkei und das Scheitern des Rechtsstaates“, sagte Tosun.
Die Geschichte
Serdar Tanış erhielt im September 2000 von der Hauptzentrale seiner Partei den Auftrag, in Silopiya den Kreisverband der HADEP zu gründen. Nachdem er die Arbeiten aufnahm, wurde er vom damaligen General des Provinzregiments der Militärpolizei (später auch Leiter des informellen Geheimdienstes der Behörde JITEM), Levent Ersöz und dem Leiter der örtlichen Behörde, Hauptmann Süleyman Can bedroht. Trotz aller Repression wurde am 3. Januar 2001 in Silopiya die Ortsstelle der HADEP eröffnet. Serdar Tanış nahm den Posten des Kreisvorsitzenden ein.
Mit dem zunehmenden Druck und anhalten Drohungen schickte Tanış ein Schreiben an den damaligen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer, das Justizministerium, das Innenministerium und zahlreiche weitere Behörden. Darin beschrieb er die Drohungen, denen er ausgesetzt wurde und forderte, seine Sicherheit und sein Recht, Politik zu betreiben, zu gewährleisten. Am 25. Januar 2001 wurde er vom Unteroffizier Taşkın Akgün telefonisch in die die Zentrale der Militärpolizei in Silopiya bestellt.
Serdar Tanış und der damals 27-jährige Ebubekir Deniz, Mitglied im Kreisvorstand der HADEP, kamen der Aufforderung nach. Seit diesem Tag sind beide „verschwunden“.
EGMR verurteilt Türkei
Fünf Tage lang leugneten die türkischen Behörden, dass die beiden Männer zur Militärpolizei vorgeladen wurden. Am 6. Tag konnte der damalige Gouverneur Hüseyin Başkaya dem öffentlichen Druck nicht mehr standhalten. Er behauptete, Serdar Tanış und Ebubekir Deniz hätten sich am besagten Tag lediglich eine halbe Stunde in der Behörde aufgehalten, um ein Protokoll zu unterzeichnen. Später kam heraus, dass Tanışs Vater Şuayip Tanış ebenfalls bedroht wurde. Damals erklärte er, ebenfalls zur Militärpolizei nach Şirnex gebracht worden zu sein: „Levent Ersöz hat mir nahegelegt, dass es nicht gut für meinen Sohn wäre, den HADEP-Kreisverband zu eröffnen. Als Serdar beruflich in Amed unterwegs war, rief mich Levent Ersöz an und sagte: ‚Wenn dein Sohn je wieder Şırnak betreten sollte, lasse ich ihn nicht am Leben‘. Als mein Sohn zurückkehrte, wurde er zur Jandarma bestellt. Er ging, aber kam niemals zurück“.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Türkei im Fall der „verschwundenen“ Serdar Tanış und Ebubekir Deniz. Die Verantwortlichen wurden von der türkischen Justiz nicht bestraft.
HADEP
Die „Partei der Demokratie des Volkes“ (türkisch: Halkın Demokrasi Partisi) wurde 1994 gegründet und im März 2003 verboten. Zur Begründung des Verbots führte das Verfassungsgericht „separatistische Bestrebungen“ an. Gegen mehrere Dutzend Führungsfunktionäre verhängte das Gericht ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot. Davon war auch der Vorsitzende Murat Bozlak betroffen. Nach dem Verbot wurde das Parteivermögen eingezogen. Am 1. September 2003 wurde Beschwerde beim EGMR eingelegt. Am 14. Dezember 2010 entschied das Straßburger Gericht, dass das Verbot der HADEP gegen die in Artikel 11 der Europäischen Konvention für Menschenrechte gewährte Organisationsfreiheit verstoßen hat.
Samstagsmütter
Seit 23 Jahren fordern die „Samstagsmütter“ in Istanbul Aufklärung über ihre in der Türkei verschwundenen Angehörigen. Die am längsten andauernde Aktion zivilen Ungehorsams in der Türkei begann am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie und der Rechtsvertreter des durch Folter ermordeten Lehrers Hasan Ocak auf dem Galatasaray-Platz. Der Familie von Hasan Ocak schloss sich dann die Familie von Rıdvan Karakoç an, dessen Leichnam die Familie erhielt, nachdem er für einige Zeit verschwunden gewesen und zu Tode gefoltert worden war. Die beim ersten Zusammentreffen dreißig Menschen zählende Gruppe wuchs mit jeder folgenden Woche. Später sollten sich Tausende am Galatasaray-Platz versammeln. Die Presse gab der Gruppe, die jeden Samstag auf dem Platz eine Sitzaktion durchführte, den Namen „Samstagsmütter“. Die Gruppe nahm den Namen an und begann sich selbst Samstagsmütter zu nennen.
Jeden Samstag um 12.00 Uhr kommen die Samstagsmütter, Menschenrechtler und Unterstützer mit Fotografien von Hunderten Verschwundenen und Verschleppten zum Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium im Zentrum Istanbuls, um mit diesem friedlichen Protest Wahrheit und Gerechtigkeit zu fordern.
Wie die „Mütter des Platzes der Mairevolution“ in Argentinien haben auch die Samstagsmütter mehrere Forderungen: Sie wollen wissen, was dem Opfer widerfahren ist, und sie wollen ihre Angehörigen zurück – tot oder lebendig. Mit dieser Forderung wird versucht, diese Menschenrechtsverletzungen im kollektiven Gedächtnis lebendig zu halten. Die zweite Forderung betrifft die Feststellung der Täter und die strafrechtliche Ahndung des Verbrechens.
Die Verweigerung des Vergessens durch die Samstagsmütter ist nicht auf Istanbul begrenzt geblieben, sondern hat sich auch auf kurdische Städte mit den höchsten „Verschwundenen-Raten“ wie Amed und Şirnex ausgebreitet.