Wie in einem Ritual geht die türkische Polizei in Istanbul inzwischen seit Monaten gegen die Samstagsmütter vor, um die Forderung nach Aufklärung des Schicksals von gewaltsam verschwunden gelassenen Menschen und die Bestrafung der Täter zu unterdrücken. Auch heute wurde der Initiative und ihren Unterstützenden trotz eines gegensätzlichen Urteils des türkischen Verfassungsgerichts der Zugang zu ihrem angestammten Kundgebungsort auf der Istiklal Caddesi verwehrt und die wöchentliche Mahnwache der Samstagsmütter mit Gewalt unterbunden.
Als die Gruppe den durch Barrieren und Gitter abgesperrten Galatasaray-Platz zu erreichen versuchte, um dort Nelken für die in staatlichem Gewahrsam Verschwundenen abzulegen, wurde sie vor dem nahegelegenen Sitz der Istanbuler Rechtsanwaltskammer von Anti-Aufruhr-Einheiten der Polizei eingekreist. Unter der Menge befanden sich auch die Vorsitzenden von 16 Anwaltskammern sowie mehrere Parlamentsabgeordnete, darunter Özgül Saki (YSP) und Ahmet Şık (TIP), die das Sit-in der Samstagsmütter begleiten wollten. Die Einsatzleitung forderte die Beteiligten mit Verweis auf ein vom örtlichen Landratsamt erteilten Versammlungsverbot auf, den Platz zu verlassen. Mehrere Kammervorsitzende intervenierten dagegen und merkten an, dass die Anordnung der Behörde nicht rechtens sei. Das Landratsamt dürfe sich nicht über ein Urteil des höchsten Gerichts des Landes hinwegsetzen.
Die Polizei ignorierte die Hinweise und wies anwesende Medienschaffende vom Platz. Dabei wurde die Journalistin Fatoş Erdoğan gewaltsam zu Boden gedrückt und über den Asphalt geschleift. Anschließend wurden 24 Personen ebenfalls mit Gewalt angegangen und in Gewahrsam genommen. Unter ihnen befinden sich auch die Rechtsanwältin und Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, die Vorsitzende des Istanbuler IHD-Zweigverbands Gülseren Yoleri, Sevil Turgut vom IHD-Büro in Ankara sowie Leman Yurtsever, Hüseyin Aygül und Hatice Onaran vom IHD-Vorstand Istanbul.
Bei den weiteren Festgenommenen handelt es sich um Aslı Saraç von der Media and Law Studies Association (MLSA), die Vertreterin der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV), Ümit Efe, die Vermissten-Angehörigen Hanife Yıldız, Mikail Kırbayır, İkbal Eren, İrfan Bilgin, Ali Ocak, Meryem Bars, Hasan Karakoç, Ali Tosun, Maside Ocak, Besna Tosun, Meryem Göktepe und İsmail Yücel, den Friedensakademiker Nazım Dikbaş sowie die Initiativen-Mitglieder Hünkar Yurtsever, Özge Efe Bakırcı und Salim Derelioğlu.
Synonym für das Schicksal der Opfer des „Verschwindenlassens”
1995 gingen Frauen in Istanbul zum ersten Mal auf die Straße, um analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” auf festgenommene und dann verschwundene Verwandte in den 1980er und 1990er Jahren aufmerksam zu machen. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Mahnwachen aussetzen, da die Polizei die Versammlungen regelmäßig auflöste. Seit einem vom Innenministerium angeordneten Großangriff auf die Samstagsmütter im Sommer 2018 ist der Galatasaray-Platz für die Initiative eine Sperrzone. Dies aber steht im Widerspruch zum Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, urteilte der türkische Verfassungsgerichtshof am 22. Februar 2023 und verwarf den Einwand des Ministeriums, das den „Schutz der öffentlichen Ordnung“ durch die Samstagsmütter bedroht sieht. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in Artikel 34 der türkischen Verfassung, gegen den die Sicherheitsbehörden mit ihrer Verbotsverfügung für die gewaltsam aufgelöste Aktion der Samstagsmütter im August 2018 und alle folgenden verstoßen haben. Die Blockade des Platzes sei damit hinfällig. Seit dem 8. April 2023 nutzt die Initiative nicht mehr ihren alternativen Kundgebungsplatz vor dem IHD-Büro, sondern geht wieder auf die Istiklal Caddesi, um zu protestieren – heute zum 956. Mal. Die Behörden ignorieren das Urteil und gehen die 16. Woche in Folge gewaltsam gegen die Samstagsmütter vor.