Die Istanbuler Samstagsmütter haben ihre Aktion für ihre in staatlichem Gewahrsam verschwundenen Angehörigen und die Bestrafung der Täter in der 955. Woche fortgesetzt. Doch trotz eines gegensätzlichen Urteils des türkischen Verfassungsgerichts wurde die Blockade auf ihrem angestammten Kundgebungsort auf der Istiklal Caddesi auch heute nicht aufgehoben. Die Polizei ging wie bereits in den Wochen zuvor unter Einsatz von Gewalt gegen Mitglieder und Unterstützende der Initiative vor. Mindestens fünfzehn Personen wurden festgenommen.
Der Galatasaray-Platz, wo das Sit-in der Samstagsmütter stattfinden sollte, wurde bereits am frühen Morgen weiträumig durch Barrieren und Gitter abgesperrt. Die Bereitschaftspolizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz, um zu verhindern, dass sich die Gruppe dem Platz nähern konnte. In den Nebenstraßen parkten Einsatzwagen und Gefangenentransporter. Dennoch gelang es der Gruppe, über die Einkaufsmeile Meşrutiyet sich dem Galatasaray-Platz zu nähern.
Dort wurden die Beteiligten, die in dieser Woche unter anderem von dem YSP-Abgeordneten Celal Fırat und dem HDP-Politiker Musa Piroğlu begleitet wurden, von der Polizei eingekesselt. Die Einsatzleitung verwies auf ein vom örtlichen Landratsamt erteiltes Versammlungsverbot und drohte mit Auflösung der Zusammenkunft. Cüneyt Yılmaz von der LGBTIQ+-Kommission des Menschenrechtsvereins IHD überwand den Kessel und lief auf den Galatasaray-Platz. Mehrere Beamte rissen den Aktivisten weg und schlugen auf ihn ein. Die Journalistin Dilan Şimşek von der alevitischen Nachrichtenagentur PIRHA wurde auf den Boden gestoßen und über den Asphalt geschleift. Beide wurden in Gewahrsam genommen.
Neben Yılmaz und Şimşek nahm die Polizei auch mehrere Menschenrechtler:innen und Angehörige von Vermissten fest. Dabei handelt es sich um Hanife Yıldız, İrfan Bilgin, Mikail Kırbayır, Besna Tosun, Ali Tosun, Hasan Karakoç, Gülseren Yoleri, İsmail Yücel, Davut Arslan, Cihan Kaplan, Maside Ocak, Leman Yurtsever und Hatice Onaran. Ihnen allen droht nun eine Anzeige wegen Verstoß gegen behördliche Auflagen, die laut dem IHD ohnehin eindeutig rechtswidrig sind.
Verfassungsgericht stärkt Rechte von Samstagsmüttern
1995 gingen Menschen in Istanbul zum ersten Mal auf die Straße, um auf festgenommene und dann verschwundene Verwandte aufmerksam zu machen. Seit einem vom Innenministerium angeordneten Großangriff auf die Samstagsmütter im Sommer vor fünf Jahren ist der Galatasaray-Platz für die Samstagsmütter eine Sperrzone. Dies aber steht im Widerspruch zum Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, urteilte der türkische Verfassungsgerichtshof am 22. Februar 2023 und verwarf den Einwand des Ministeriums, das den „Schutz der öffentlichen Ordnung“ durch die Samstagsmütter bedroht sieht. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in Artikel 34 der türkischen Verfassung, gegen den die Sicherheitsbehörden mit ihrer Verbotsverfügung für die gewaltsam aufgelöste Aktion der Samstagsmütter im August 2018 und alle folgenden verstoßen haben. Die Blockade des Platzes sei damit hinfällig. Das türkische Innenministerium und Istanbuler Sicherheitsbehörden ignorieren das Urteil und gehen die inzwischen fünfzehnte Woche in Folge gewaltsam gegen die Samstagsmütter vor.