IHD-Bericht zur Situation von Flüchtlingen in der Türkei
Der Menschenrechtsverein IHD hat einen Bericht zur Lage der Flüchtlinge in der Türkei vorgelegt.
Der Menschenrechtsverein IHD hat einen Bericht zur Lage der Flüchtlinge in der Türkei vorgelegt.
Die Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD hat ihren Bericht zur Lage der Flüchtlinge in der Türkei vorgelegt. Danach lebten bis Mitte Januar 3.645.557 syrische Geflüchtete im Land. Das sind etwa 4,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Unter ihnen seien laut dem Bericht 1,7 Millionen Kinder unter 18 Jahren. Rund 23,4 Prozent aller Schutzsuchenden aus Syrien in der Türkei seien Frauen. Der IHD schätzt, dass die Zahl der registrierten Flüchtlinge aus anderen Ländern bei etwa 400.000 liegt und sich rund eine Million unregistrierte Schutzsuchende in der Türkei durchschlagen.
Der Lebenslagenbericht zur Situation der Geflüchteten im Land enthält zudem Daten über Rechtsverletzungen. Dem IHD zufolge wurden im Jahr 2020 insgesamt 658 Fälle von Hassverbrechen bei dem Verein zur Anzeige gebracht. Wie viele Anzeigen bei der Polizei erstattet wurden, ist unklar. Laut Gülseren Yoleri, Ko-Vorsitzende der Istanbuler IHD-Sektion, blieben die meisten Fälle jedoch ungemeldet. Als Hauptgrund dafür sehe sie die politische Praxis der Straflosigkeit. Allzu oft hätten die Täter keine effektive Strafverfolgung zu fürchten, da Rassismus und Diskriminierung bei der Polizei und in anderen Behörden institutionell und strukturell sei. Selbst anerkannte Flüchtlinge würden bei fremdenfeindliche Straftaten nicht den Gang zur Justiz wählen. „Sie glauben nicht an eine echte Aufklärung und Gerechtigkeit.” Der Grund sei die weit verbreitete Angst unter Flüchtlingen vor Intoleranz und der Täter-Opfer-Umkehr, also Opferbeschuldigung, sowie die Furcht vor willkürlichen Verhaftungen und illegalen Abschiebungen ins Kriegsgebiet. „Parallel zu Rassismus, Gewalt und Armut in der Welt nehmen überall Rechtsverletzungen und Misshandlungen an Flüchtlingen zu. Dennoch mangelt es den Staaten am Willen, dieses Problem zu lösen”, kritisiert der IHD.
Misshandlungen, sexualisierte Gewalt, Ausbeutung
In Behörden haben laut dem IHD vor allem Syrerinnen und Syrer mit Diskriminierung zu kämpfen, Arbeitslosigkeit und Armut prägen zudem ihr Leben. Temporäre Schutzausweise würden auf fragwürdige Weise entzogen und Flüchtlinge dadurch ihrem Recht auf Gesundheitsversorgung beraubt, Anträge auf die türkische Staatsbürgerschaft erst gar nicht bearbeitet, das Recht auf Bildung von Kindern und Minderjährigen verletzt. Auch Anträge auf Sozialleistungen oder eine Arbeitserlaubnis würden willkürlich abgelehnt, in Fabriken finde eine systematische Ausbeutung der Schutzsuchenden statt. Die Bedingungen in Abschiezentren und Flüchtlingslagern seien menschenunwürdig, darüber hinaus komme es regelmäßig zu Misshandlungen und sexualisierte Gewalt durch Sicherheitskräfte. „Für uns ist all das eindeutig Folter”, hält der IHD fest.
Abschiebungen in Kriegsgebiet
Die türkische Bevölkerung hatte Flüchtlinge aus Syrien anfangs mit beeindruckender Solidarität aufgenommen. Doch schnell ist die gesellschaftliche Akzeptanz ihnen gegenüber dramatisch gesunken. Je schlechter es der Wirtschaft geht, desto stärker wird der Widerstand in allen gesellschaftlichen Bereichen gegen die Schutzsuchenden. Als Hauptsündenböcke gelten die syrischen Flüchtlinge. Die türkischen Behörden schieben trotz Kriegshandlungen regelmäßig Geflüchtete nach Syrien ab. Auch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch berichteten bereits von diesen illegalen Methoden.
Der IHD schlägt eine Reihe von Empfehlungen vor, durch deren Umsetzung die weit verbreitete Praxis der Straflosigkeit in Bezug auf Schutzsuchende effektiv bekämpft werden kann:
* Verabschiedung eines rechtebasierten Ansatzes für Flüchtlinge
* Abkehr von diskriminierenden Diskursen über Flüchtlinge in Medien und Politik.
* Beendigung der Praxis der Straflosigkeit bei Hassverbrechen.
* Aufkündigung des Rückübernahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei.
* Verhinderung von Menschenhandel durch Öffnung der Grenzen.
* Abkehr von Politiken und Diskursen, die Flüchtlinge auf illegale und gefährliche Wege des Grenzübertritts drängen.
* Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) dazu bringen, seine Aktivitäten in der Türkei wieder aufzunehmen.
* Etablierung eines Systems in der Einwanderungsverwaltung, das den Anforderungen von Flüchtlingen gerecht wird, insbesondere bei der Entgegennahme von Anträgen auf internationalen Schutz und Aufenthalt.
* Beendigung der Praktiken, die das Rückkehrverbot verletzen.
* Implementierung von effektiven Mechanismen zur Verhinderung von Missbrauch und Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie zum Schutz von Frauen und Kindern.
* Bereitstellung gleicher und ausreichender Möglichkeiten beim Gang zur Justiz und beim Schutz durch das Gesetz unter Berücksichtigung der Sprachbarriere und finanzieller Probleme
* Gewährung der Staatsbürgerschaft für Flüchtlinge, die seit langem in der Türkei leben und nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren können.