In einem Dossier beschreibt die flüchtlingspolitische Menschenrechtsorganisation ProAsyl, dass aufgrund der Repression gegen die Presse kein unabhängiges Monitoring in der Türkei möglich sei und die permanenten rechtswidrigen Abschiebungen daher kaum zu dokumentieren seien. Sie beschreibt die dramatische Unterbringungssituation, die Abschiebungen nach Afghanistan sowie die Verstöße gegen das Verbot der Nicht-Zurückweisung. Im Folgenden dokumentieren wir das Dossier der Organisation:
Massenhaft Abschiebungen und erzwungene „freiwillige Ausreisen“
Fortlaufende Berichte von Amnesty International zwischen 2015 und 2019 belegen, dass die Türkei kontinuierlich gegen das völkerrechtliche Non-Refoulement-Gebot verstößt. Die Praxis der erzwungenen „freiwilligen" Ausreise ist weitläufig dokumentiert.
Flüchtlinge in der Türkei sind verpflichtet, sich in einer ihnen zugewiesenen Provinz aufzuhalten. Syrer*innen, die aufgrund fehlender oder falscher Registrierung festgenommen wurden, werden in Haft gezwungen, eine Erklärung der „freiwilligen Ausreise" zu unterschreiben. Zugang zu Informationen und Rechtsvertretung sind dabei nicht sichergestellt. Die Anwaltskammer Istanbul spricht von 180 Fällen alleine zwischen Juli und August 2019. Viele wurden in die Bürgerkriegsregion Idlib gebracht. Einige Betroffene wurden Berichten zufolge unmittelbar von Terrororganisationen verhaftet. Weitere Quellen sprechen von Toten infolge der Abschiebungen.
Die Willkür, vor der immer mehr türkische Staatsangehörige fliehen, macht auch bei Schutzsuchenden nicht halt.
31.000 Abschiebungen aus der Türkei ins Bürgerkriegsland Afghanistan gab es 2018
Von Abschiebungen betroffen sind auch afghanische Schutzsuchende. 2018 wurden Tausende in das Kriegsland Afghanistan abgeschoben. Charter-Maschinen werden eingesetzt. Der AIDA-Bericht spricht von 31.000 Fällen. 2019 dürfte diese Zahl noch einmal höher ausfallen.
Seit Jahren verstößt die Türkei gegen das Gebot der Nicht-Zurückweisung
Nach dem vereitelten Putsch-Versuch vom Juli 2016 wurde der Abschiebungsschutz auch rechtlich geschwächt. Nun ist per Gesetz vorgesehen, dass sowohl Schutzsuchende als auch Inhaber eines Schutzstatus aus Gründen der öffentlichen Ordnung, öffentlichen Sicherheit oder aufgrund von „Terrorismus“ jederzeit abgeschoben werden können. Vor staatlicher Willkürlichkeit in Bezug auf Terrorismus warnt sogar das Auswärtige Amt. Die Willkür, vor der immer mehr türkische Staatsangehörige fliehen, macht auch bei Schutzsuchenden nicht halt.
Der Krieg in Nordsyrien & was er mit dem Deal zu tun hat
Erdoğan hat im Oktober 2019 die lang geplante Militäroffensive in Nordsyrien begonnen. Nach den Invasionen in Dscharablus 2016 und Afrin 2018 ist es das dritte Mal, dass die Türkei eine völkerrechtswidrige Militäroperation in Syrien durchführt.
Erdoğan plant Millionen syrischer Geflüchtete in einer „Sicherheitszone" in Nordsyrien anzusiedeln. Dieser Plan findet sich bereits im EU-Türkei-Deal von 2016.
Erdoğan plant Millionen syrischer Geflüchtete in einer „Sicherheitszone" in Nordsyrien anzusiedeln. Dafür möchte er Gebiete nutzen, in die die Türkei zuvor völkerrechtswidrig einmarschiert ist. Pläne wie die staatliche Baufirma TOKI hier Siedlungen bauen sollen, liegen Medienberichten zufolge bereits vor. Angesichts der dokumentieren Praxis der „erzwungenen freiwilligen Ausreisen“ ist es naheliegend, dass eine solche Ansiedlung nicht immer freiwillig erfolgen würde. Zu erwarten sind Abschiebungen, die gegen das Verbot von Kollektivausweisungen und gegen das Non-Refoulement-Gebot verstoßen.
Dieser Plan findet sich bereits im EU-Türkei-Deal von 2016. Der völkerrechtswidrige Einmarsch in Syrien und die darauf aufbauenden Pläne hatten sozusagen einen europäischen Freifahrtschein.
In der EU-Erklärung vom 18. März 2016 heißt es wörtlich unter Punkt 9: „Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden mit der Türkei bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien, hier insbesondere in bestimmten Zonen nahe der türkischen Grenze, zusammenarbeiten, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sichereren Zonen leben können."
Schüsse an der Grenze ‒ Wie die Türkei im Sinne Europas Flüchtlinge abwehrt
Auch die Türkei schottet sich ab. Bereits vor dem Deal mit der EU, hat sie die Visaregularien für Syrer*innen verschärft, Grenzübergänge geschlossen und mit dem Bau von Grenzmauern an der Grenze zum Iran und zu Syrien begonnen. Wie dokumentiert wurde, hält die Türkei Schutzsuchende auch mit Schüssen davon ab, die syrisch-türkische Grenze zu passieren. Immer wieder kommt es zu Todesopfern.
Die nächste große Hürde ist die Registrierung bei den türkischen Behörden. Ohne die Registrierung sind Schutzsuchende illegal im Land. Werden sie kontrolliert, etwa auf dem Weg zu einer zugewiesenen Provinz, können sie festgenommen werden und in Abschiebehaft geraten. 2018 berichtet Human Rights Watch, dass 10 Provinzen darunter Istanbul, die Registrierung syrischer Flüchtlinge eingestellt haben. Ob eine Provinz weiterhin für Neu-Registrierungen offen ist, kann sich täglich ändern. Laut AIDA Bericht berichten afghanische Flüchtlinge von mehrjährigen Verzögerungen und zwischenzeitlichen Schließungen der Registrierungsstelle oder der Zuweisung anderer Provinzen zur Registrierung.
Drei Jahre EU-Türkei-Deal ‒ Zu welchem Preis?
Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) wurde von der Türkei nur mit „geographischem Vorbehalt" unterzeichnet, nur Flüchtlinge aus Europa können sich auf sie berufen. Nicht-europäischen Flüchtlingen sicherte die Türkei auf dem Papier Schutz vor Abschiebungen zu – eine Minimalanforderung der sie nicht gerecht wird.
Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) wurde von der Türkei nur mit „geographischem Vorbehalt" unterzeichnet, nur Flüchtlinge aus Europa können sich auf sie berufen.
Syrische Flüchtlinge können aufgrund der eingeschränkten Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention nur „temporären Schutz" erhalten – ein Gruppenstatus, der jederzeit durch eine politische Entscheidung des Präsidialamtes beendet werden kann.
Zweifel am EU-Türkei-Deal ‒ Deutsches Gericht stoppt Abschiebung nach Griechenland
Neben Syrer*innen kommen die meisten Flüchtlinge in der Türkei aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran – im Juni 2019 sind es etwa 400.000. Sie können sogenannten „internationalen Schutz“ beantragen. In einem individuellen Verfahren wird geprüft, ob sie einen „bedingten Schutzstatus“ oder „subsidiären Schutz“ erhalten. Auch wenn die Begriffe europäischen ähneln, sind sie weit von einem sicheren Status entfernt. Beides sollen Übergangslösungen bis zum vermeintlichen Resettlement in einen anderen Staat sein und bieten keine langfristige Perspektive, da es für Inhaber*innen des „Internationalen Schutzes" keine Möglichkeit auf einen langfristigen Aufenthaltstitel gibt und der Status auch nicht als Zeit für die Einbürgerungsvoraussetzungen gezählt wird.
Auch beim Resettlement sieht es für sie düster aus: es gibt kaum Aufnahmen von nicht-syrischen Flüchtlingen aus der Türkei. 2019 (Stand November) wurden 10.268 Flüchtlinge umgesiedelt. Bei etwa vier Millionen Flüchtlingen in der Türkei sind dass 0,26 Prozent. Von den im Land lebenden 400.000 nicht-syrischen Flüchtlingen und Asylsuchenden wurden 2019 lediglich etwa 2.160 umgesiedelt – also etwa 0,5 Prozent. Damit haben die Menschen weder eine realistische Chance auf ein gutes und sicheres Leben in der Türkei, noch auf einen Neuanfang in einem Drittstaat.
Prekäre soziale Situation
In der Türkei haben Schutzsuchende kein Anspruch auf staatliche Unterbringung oder Zugang zu Sozialwohnungen. Unterstützung gibt es kaum. Laut dem AIDA Bericht Update 2018 leben lediglich 4 Prozent aller syrischen Flüchtlinge in einem offiziellen Flüchtlingslager – die zunehmend alternativlos geschlossen werden. Ohne die notwendigen finanziellen Mittel sind viele gezwungen unter prekären Bedingungen in baufälligen Wohnungen, in Zelten oder auf der Straße zu leben.
Türkei ist kein sicherer Staat für Flüchtlinge!
Der Zugang für Geflüchtete zum regulären Arbeitsmarkt ist de facto nicht gegeben. Im Zeitraum von Januar 2016 bis September 2018 erhielten knapp 30.000 syrische Flüchtlinge mit „temporärem Schutz" eine Arbeitserlaubnis – also weniger als 1 Prozent. 2017 – aktuellere Zahlen konnten wir nicht ausfindig machen – waren es bei Afghan*innen lediglich 609 Personen, die eine Arbeitserlaubnis erhielten. Zusätzlich gibt es Anstellungsquoten und Restriktionen für bestimmte Berufe. Der Großteil arbeitet unter häufig prekären Umständen im generell großen informellen Sektor. Auch Kinder sind davon betroffen.
Die Türkei ist kein „sicherer Drittstaat“, das hat schon 2016 ein Gutachten des Asylrechtsanwalts Dr. Reinhard Marx im Auftrag von PRO ASYL klargestellt. Schutzsuchende erhalten in der Türkei keinen dauerhaften Schutzstatus und nicht die Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Dr. Marx stellt fest, „dass die Türkei das Refoulement-Verbot weder in seiner Form als Zurückweisungs- noch in seiner Form als Abschiebungsverbot einhält" (S. 15).
Keine Zusammenarbeit mit Despoten!
Trotz der unsicheren Lage von Schutzsuchenden in der Türkei will die EU weiter am Flüchtlingsdeal festhalten. Wie es Menschen geht, die aktuell aufgrund des EU-Türkei-Deals aus Griechenland in die Türkei abgeschoben wurden, ist auch der Bundesregierung unbekannt. Sie beruft sich weiterhin auf Berichte der Kommission von 2017. Obwohl im EU-Türkei Deal eine monatliche Berichterstattung zu allen Punkten vorgesehen war, gibt es kein systematisches Monitoring oder Berichte über die Situation von Rückgeführten seitens der EU.
Es braucht jetzt eine Achtung von Menschenrechte an der Grenze und das Eintreten für den Flüchtlingsschutz durch die EU und ihren Mitgliedstaaten!
Der Deal von 2016 ist wegbereitend für die humanitäre und rechtliche Krise, in der sich die EU derzeit befindet. Push-Backs von Griechenland in die Türkei und die Aussetzung von Asylverfahren verletzen die Genfer Flüchtlingskonvention und unveräußerliche Rechte individueller Personen, die Schutz brauchen. Wie die Vertreter der drei großen EU Institutionen – Kommission, Parlament und Rat – eindrücklich bewiesen haben, sind menschenrechtliche Bedenken für sie längst sekundär.“
Die NGO schließt mit den Worten: „Wir werden uns dem nicht anschließen! Es braucht jetzt eine Achtung von Menschenrechte an der Grenze und das Eintreten für den Flüchtlingsschutz durch die EU und ihren Mitgliedstaaten – eine Fortsetzung der europäischen ‚Deal‘ – Politik wäre der Sargnagel der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.“