In der Türkei wird der Opfer des Anschlags auf die Friedenskundgebung vor sechs Jahren in Ankara gedacht. 103 Menschen kamen bei dem „Bahnhofsmassaker” am 10. Oktober 2015 ums Leben, mehr als 500 wurden verwundet. Zu den Gedenkveranstaltungen haben die „Plattform Arbeit und Demokratie” und der „Friedens- und Solidaritätsverein 10. Oktober” aufgerufen, den Hinterbliebene und Angehörige der Opfer gegründet haben. In einigen Orten ist das Andenken von Polizeiprovokationen überschattet worden. In Ankara wurden 22 Personen festgenommen, nachdem sie versucht hatten, auf den abgesperrten Kundgebungsplatz vor dem Bahnhof zu gelangen. Die Menge war zuvor mit Tränengas angegriffen worden.
Die Polizei ließ nur Familienmitglieder der Todesopfer zu dem Gedenken am Tatort in der Hauptstadt zu. Hunderte Einsatzkräfte hatten bereits früh einen Belagerungsring um das Bahnhofsviertel gezogen. Um 10.04 Uhr Ortszeit, jenem Moment vor sechs Jahren, als sich zwei Selbstmordattentäter inmitten der Friedenskundgebung in die Luft sprengten, zu der die HDP und der Gewerkschaftsbund KESK unter dem Motto „Arbeit, Frieden, Demokratie“ als Reaktion auf den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung aufgerufen hatten, wurde eine Schweigeminute abgehalten. Danach wurden Parolen skandiert: „Kein Vergeben – Kein Vergessen”, „Der mörderische Staat wird Rechenschaft ablegen”, „Mörder IS – Handlanger AKP” und „Es lebe die Geschwisterlichkeit der Völker”. Viele Trauernde hatten rote Nelken und schwarze Luftballons mitgebracht.
Bahnhofsmassaker ist ein „politisches Attentat”
Mehtap Sakinci Coşgun, Vorsitzende des Hinterbliebenenvereins, die bei dem Anschlag ihren Ehemann Uygar Coşgun verlor, hielt eine bewegende Ansprache. „An jenem Morgen hatten sich hier an diesem Platz tausende Menschen mit Liebe in ihren Herzen und lächelnden Augen geschwisterlich versammelt, um gemeinsam Lieder für den Frieden zu singen. Dieses Beisammensein, das uns inmitten der damaligen Dunkelheit große Hoffnung gab, wurde um vier Minuten nach zehn Uhr in ein Blutmeer verwandelt. Mit Liebe und Respekt erinnern wir uns an unsere 104 Freundinnen und Freunde, die von zwei IS-Attentätern aus dem Leben gerissen wurden. Mit jedem Tag der vergeht, wird unsere Sehnsucht an sie immer größer.” Ein Überlebender des Anschlags starb vergangenes Jahr an den Folgen seiner Verletzungen. Daher spricht der Verein von 104 Todesopfern.
Coşgun beklagte zudem die Politik der Straflosigkeit gegenüber den Tätern und bezeichnete das Gerichtsverfahren gegen Hintermänner als Justizfarce. Bei dem Anschlag handele es sich um ein „politisches Attentat”, sagte Coşgun mit Blick auf die Recherchen des Anwaltskollektivs der Überlebenden und Hinterbliebenen. Rund 200 Dateien mit Dokumenten und Beweisen belegen inzwischen, dass nicht nur der Anschlag von Ankara, sondern auch andere tödliche Attentate zur damaligen Zeit von polizeibekannten und -beobachteten Zellen durchgeführt wurden und staatliche Kräfte es unterließen einzugreifen, um diese Massaker zu verhindern.
Polizei verhindert Grabbesuch in Riha
Zu weiteren Provokationen durch die Polizei kam es im nordkurdischen Riha (tr. Urfa). Der Eingang zum Friedhof, wo der Aktivist Yılmaz Elmascan begraben liegt, wurde von Sicherheitskräften versperrt. Nur der Familie von Elmascan und der HDP-Abgeordneten Ayşe Sürücü wurde der Grabbesuch genehmigt.
Beschimpfungen und Beleidigungen unter Polizeischutz
In Amed (Diyarbakir) eskortierte die Polizei mehrere Personen, die sich an der Belagerung der HDP-Zentrale beteiligen, zur Gedenkveranstaltung im Koşuyolu-Park. Am Menschenrechtsmahnmal beschimpfte die Gruppe unter Polizeischutz die Trauergäste, der Provokateur Celil Begdaş versuchte handgreiflich zu werden. Seit September 2019 sitzen Eltern auf Direktive des türkischen Staates vor dem HDP-Gebäude in Amed bereits und behaupten, ihre Kinder seien gegen ihren Willen zur kurdischen Guerilla in die Berge gebracht worden. Celil Begdaş führt die inszenierte Protestaktion an und griff in der Vergangenheit bereits mehrere HDP-Mitglieder an.
Mahnmaleinweihung in Izmir
Weitere Gedenkveranstaltungen gab es unter anderem in Istanbul, Adana, Antalya, Aydın, Amasya, Samsun, Giresun, Artvin, Rize, Trabzon, Çorum, Hatay, Dersim, Wan, Şirnex, Colemêrg (Hakkari) und Semsûr (Adiyaman). In Konak bei Izmir wurde ein Mahnmal für die Opfer des Anschlags eingeweiht.
Der Selbstmordanschlag von Ankara war der schwerste Terroranschlag in der Geschichte der Türkei. Er fand zu einer Zeit statt, in der Staatspräsident Tayyip Erdoğan sein Ein-Mann-Regime aufbaute. Am 30. Oktober 2014 wurde im Nationalen Sicherheitsrat der Plan zur Niederschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung beschlossen. Eines der darauffolgenden Massaker war der Anschlag von Pirsûs (Suruç) am 20. Juli 2015, bei dem 33 junge Menschen von einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt wurden. Für beide Attentate ist die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) verantwortlich. Die Täter gehörten einer IS-Zelle aus Semsûr (Adıyaman) an, die auch für den Anschlag am 5. Juni 2015 in Amed (Diyarbakir) verantwortlich ist. Die blutige Anschlagsserie belegt die enge Zusammenarbeit zwischen dem türkischen Regime und dem IS.