In vielen Städten der Türkei und Nordkurdistans ist heute den Opfern des IS-Anschlags von Pirsûs (Suruç) gedacht worden. Bei dem Anschlag am 20. Juli 2015 in der nordkurdischen Provinz Riha (Urfa) waren 33 hauptsächlich junge Menschen ums Leben gekommen. Der von seinen Eltern als vermisst gemeldete und von der Polizei beobachtete Attentäter gehörte einer islamistischen Zelle aus Semsûr (Adıyaman) an, die auch für die Anschläge am 5. Juni 2015 in Amed (Diyarbakir) und am 10. Oktober 2015 mit Hunderten Toten und Verletzten verantwortlich ist. Mehmet Yapalıal, damaliger Polizeipräsident von Suruç, hatte schon im Vorfeld nachrichtendienstliche Informationen zu dem Attentat erhalten. Am 16. Juni, also etwas mehr als einen Monat vor dem Anschlag, lag dem Ex-Polizeipräsidenten die Einstufung des späteren Attentäters als „aufgrund Terrorismusgefahr gesuchte Person“ vor. Gegen die drohende IS-Gefahr wurden dennoch keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Die Polizei zog es offenbar vor, das Attentat nicht zu verhindern und hinterher gegen die Überlebenden vorzugehen.
Aktivitätsverbot zur Verhinderung von Gedenkveranstaltungen
In Riha und Mûş konnten heute keine Gedenkfeiern stattfinden. In den beiden Provinzen war im Vorfeld jeweils durch den türkischen Gouverneur ein Aktivitätsverbot verhängt worden. In Pirsûs selbst war der Friedhof bereits in den Morgenstunden von Polizei und Jandarma umstellt worden. Auch die Stadteingänge wurden regelrecht belagert. Die Trauergemeinde ließ es sich trotz Repression und Schikanen nicht nehmen, Blumen an den Gräbern der Getöteten niederzulegen.
Polizei verhindert Trauerrede
Der Karşıyaka-Friedhof in Wan (Van) wurde ebenfalls von türkischen Sicherheitskräften belagert. Die Polizei stürmte die Ruhestätte mitten in einer Trauerrede des HDP-Abgeordneten Murat Sarısaç und erteilte ein Versammlungsverbot. Dabei traten Beamte provokativ auf Gräber von Getöteten. Sarısaç kommentierte das Vorgehen als „Fortbestehen der IS-Mentalität“ und sagte: „Erst werden keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um den Anschlag zu verhindern, jetzt wird ein äußerst respektloses Verhalten gegenüber den Opfern und Hinterbliebenen gezeigt. Der Kampf um Gerechtigkeit wird dennoch weitergehen“.
Zum Hintergrund:
Nachdem Anfang 2015 die nordsyrische Stadt Kobanê vom sogenannten „Islamischen Staat” (IS) befreit wurde, rief die Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei (SGDF) für den 19. bis 24. Juli zu einer Kampagne zum Wiederaufbau der durch die IS-Terroristen zerstörten Stadt Kobanê auf. Aus mehreren Städten der Türkei und Nordkurdistans kamen daraufhin am 20. Juli etwa 300 Jugendliche in Pirsûs im Kulturzentrum Amara zusammen, um anschließend gemeinsam nach Kobanê einzureisen. Das Kulturzentrum wurde damals von der kurdischen Stadtverwaltung betrieben. Im September 2014 war es ein erster Anlaufpunkt für tausende Flüchtlinge, die in nur wenigen Tagen vor Kämpfen in Kobanê nach Pirsûs flohen. Sie erhielten im Garten des Amara-Zentrums erste Versorgung, Essen und Unterkunft.
Am Tag des Anschlags verursachte der IS-Selbstmordattentäter um die Mittagszeit in direkter Umgebung der SGDF-Versammlung eine Explosion, bei der 33 Menschen ihr Leben verloren und mindestens 76 weitere Menschen teils schwer verletzt wurden. Das jüngste Opfer war 18 Jahre alt, das älteste 65 (Cemil Yıldız).
Nach der Beerdigungszeremonie für die 19-jährige Ece Dinç in Istanbul ging die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Trauergemeinde vor. Einen Tag später war ihr Grab geschändet. Später wurden auch auf dem Friedhof von Pirsûs Gräber von Opfern des Massakers verwüstet. Etliche Anschlagsüberlebende und ihre Angehörigen werden zudem mit Repression türkischer Behörden überzogen. So wurde im April die 62-jährige Besra Erol, Mutter des Aktivisten Evrim Deniz Erol, aufgrund ihrer Trauerrede auf der Beerdigung ihres Sohnes wegen des Vorwurfs der „Terrorpropaganda” zu einer Freiheitsstrafe von siebeneinhalb Jahren verurteilt worden. In besagter Rede hatte Erol lediglich auf die Unterstützung der Erdoğan-Regierung an den IS und die Friedensforderungen des kurdischen Volkes hingewiesen.
Weitere Gedenkveranstaltungen fanden heute in Istanbul, Amed (Diyarbakir), Colemêrg (Hakkari), Adana, Mersin und vielen weiteren Städten statt.