Das Büro des Menschenrechtsvereins IHD in Mersin veranstaltete ein Podiumsgespräch mit dem Titel „Gefängnisse gestern und heute – in Erinnerung an das Gefängnismassaker vom 19. Dezember“. Bei der sogenannten „Operation Rückkehr ins Leben“, die zur Durchsetzung der F-Typ-Isolationsgefängnisse in der Türkei diente, wurden am 19. Dezember 2000 mindestens 30 Gefangene durch Sicherheitskräfte getötet. Der IHD-Ehrenpräsident Akın Birdal, die Ko-Sprecherin der IHD-Gefängniskommission, Nuray Çevirmen Aykol, der ehemalige Präsident der Ärztekammer von Mersin, Mehmet Antmen, sowie der Sekretär der IHD-Sektion Mersin und Zeuge des Massakers vom 19. Dezember, Bekir Sıtkı Keçeci, nahmen als Referent:innen an der Veranstaltung teil.
Der Raum war mit Transparenten geschmückt, die an das Gefängnismassaker vom 19. Dezember 2000, das Massaker von Maraş vom 19. bis 28. Dezember 1978, bei dem türkische Faschisten hunderte Alevi:innen ermordeten, und das Massaker von Roboskî vom 28. Dezember 2011, bei dem die türkische Luftwaffe 34 kurdische Zivilisten tötete, erinnerten. Auf anderen Transparenten wurde die Freiheit der kranken Gefangenen gefordert. Bevor die Veranstaltung begann, erhoben sich die Teilnehmer:innen zu einer Schweigeminute für die Opfer der Massaker.
„Es gab nur die Wahl: Unterwerfung oder Widerstand“
Zuerst ergriff Bekir Sıtkı Keçeci als Zeuge des Massakers vom 19. Dezember das Wort. Er betonte den Charakter des Massakers vom 19. Dezember als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Keçeci wies darauf hin, dass die damalige Regierung das Massaker verübte, um das Todesfasten der Gefangenen zu beenden und die Gesellschaft einzuschüchtern: „Der Staat hatte das Massaker geplant, um die Gefangenen in Zellen aufzuteilen und diese Isolationspolitik auch auf die Gesellschaft anzuwenden. 8.500 Militärpolizisten und 1.500 Polizisten waren an diesem Massaker beteiligt. Sie warfen Bomben von oben in die Gefängnisse und schossen gezielt auf die Gefangenen. Viele unserer Leute verloren ihr Leben oder wurden verletzt. Die Polizei verbrannte Menschen bei lebendigem Leib. Der damalige Justizminister sagte im Fernsehen, es gehe nicht darum, das Todesfasten zu beenden, sondern die Autorität des Staates zu sichern. In der Operation, die als ‚Rückkehr ins Leben‘ bezeichnet wurde, wurden Menschen aus dem Leben gerissen.“ Keçeci erklärte, dass nach diesem Massaker Tausende am Todesfasten beteiligt waren und sagte: „Wir hatten keine andere Wahl, als unseren Körper im Widerstand einzusetzen. Es gab nur die Wahl: Unterwerfung oder Widerstand.“
Hungerstreiks: „Tod aufgrund fehlender medizinischer Versorgung“
Der Arzt Mehmet Antmen wies darauf hin, dass viele hungerstreikende Gefangene aufgrund der fehlenden medizinischen Versorgung ihr Leben verloren haben. Er erinnerte daran, dass in den 2000er Jahren die Hungerstreiks lange geführt werden konnten, da es immer wieder die Möglichkeit gegeben habe, den Kampf durch die Einnahme von Vitamin B1 zu verlängern.
„Müssen erst Menschen sterben, damit demokratische Forderungen berücksichtigt werden“
Der Ehrenpräsident des IHD, Akın Birdal, beschrieb indessen den Zustand des Landes unter der AKP-Regierung und erklärte: „Die Türkei hat sich in ein Gefängnisland verwandelt." Mit Blick auf die aktuellen Hungerstreiks in den Gefängnissen, die unter den Forderungen „Freiheit für Abdullah Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage“ stattfinden, unterstrich Birdal, dass die Isolation Öcalans umgehend beendet werden müsse und erinnerte an den großen Hungerstreik im Jahr 2019, an dem Tausende Gefangene teilnahmen: „Ein ähnlicher Hungerstreik fand bereits vor drei Jahren statt. Auch davor gab es bereits einen. Leyla Güven und Tausende weitere Gefangene traten in den Hungerstreik. Damals haben sieben Gefangene ihr Leben verloren. Anschließend [nachdem zunächst Besuche bei Öcalan zugelassen worden waren] wurde die Isolation weiter fortgesetzt. Seit drei Jahren hat Öcalan keinen Kontakt mehr zu seiner Familie oder seinen Anwält:innen. Aktuell finden Hungerstreiks mit den gleichen Forderungen statt. Müssen erst Menschen sterben, damit diese Forderungen berücksichtigt werden? Die Aufhebung der Isolation ist der Weg zu Demokratie und Frieden. Lasst uns die Stimme der Hungerstreikenden sein, damit wir zur Lösung der kurdischen Frage beitragen können.“ Birdal wies auch auf die Situation der inhaftierten Journalist:innen hin und betonte die Notwendigkeit, sich auch in diesem Bereich zu engagieren und die Verbreitung der Wahrheit zu verteidigen.
Immer neue Gefängnisse werden gebaut
Nuray Çevirmen Aykol, Ko-Sprecherin der IHD-Gefängniskommission, machte auf die zunehmenden Rechtsverletzungen gegenüber den Gefangenen aufmerksam. Sie betonte, dass ein regelrechtes Foltersystem in den Gefängnissen angewendet werde und die Todesfälle inhaftierter Personen bis heute verheimlicht würden. Laut Çevirmen existieren derzeit 405 Gefängnisse in der Türkei und Nordkurdistan, mit zwölf weiteren, die in naher Zukunft eröffnet werden sollen. Sie führte weiter aus: „Die hohe Anzahl neuer Gefängnisse deutet darauf hin, dass diese auch belegt werden. In der Türkei herrscht ein Gefängnisregime. Isolationsgefängnisse stellen eine Form der Folter dar, indem sie die Gefangenen vollständig von ihrem sozialen Umfeld isolieren und ihre Probleme von der Gesellschaft fernhalten.“ Çevirmen machte zudem darauf aufmerksam, dass trotz offensichtlicher Haftunfähigkeit weiterhin Patienten mit Behinderungen, schweren Krankheiten und solche, die nicht allein leben können, im Gefängnis festgehalten werden. Dies stellt eine klare Verletzung der Rechte der kranken Gefangenen dar.