Es begann damit, dass im Çiçek-Kino in der damals linken Hochburg Maraş (ku. Gurgum) die Komödie „Zeynel und Veysel“ durch den Verein „Ülkücü Gençlik“ (Jugendorganisation von „Graue Wölfe“, kurz ÜGD) mit dem nationalistischen Machwerk „Wann geht die Sonne auf?“ ausgetauscht wurde. Der antikommunistische Streifen behandelt in ultranationalistischer Weise den „Kampf der Türken“ auf der Krim gegen Russland. Der Saal in der Stadt, die – angetrieben von der MHP des Hitler-Verehrers Alparslan Türkeş, die das Ethnisch-Türkische in den Mittelpunkt ihrer Propaganda stellte – durch eine wachsende politische Polarisierung zwischen „Links-Rechts“ sowie „sunnitisch-alevitisch“ gekennzeichnet war, war gedrängt voll, als der 1956 geborene Rechtsradikale Ökkeş Kenger mitten in der Filmvorführung einen Bombenanschlag auf das Kino verübte. Die Detonationskraft war gering, da der Anschlag mit einer Schockgranate ausgeführt wurde. Doch es war der Auftakt eines von langer Hand geplanten Pogroms, an dessen Ende hunderte Menschen brutal ermordet wurden.
Die Erfahrungswerte für das Pogrom von Maraş waren am 17. und 18. April 1978 in der benachbarten Provinz Meletî gesammelt worden, als rechtsextreme Anhänger der MHP zwei Tage lang die Stadt terrorisierten, Partei- und Versammlungslokale von alevitischen Linken in Brand steckten, ihre Geschäfte plünderten, mehrere Druckereien zerstörten und schließlich in eine Schule eindrangen und eine Gruppe Schüler entführten – von denen drei später gefoltert und ermordet außerhalb der Stadt gefunden. Am Ende waren acht Menschen tot, 60 wurden verletzt und über 470 Wohnhäuser zerstört. | Foto: „Für Gott in den Krieg“ steht an den Scheiben eines Geschäfts
Die Nachricht, die Bombe sei von „linken Kızılbaş“ (dieser Ausdruck wird auch als Synonym für die Schia und den alevitischen Glauben verwendet) gelegt worden, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Maraş. Am nächsten Tag wurde ein von einem Aleviten betriebenes Kaffeehaus bombardiert, und am darauffolgenden Tag erschoss ein Unbekannter die beiden Lehrer Hacı Çolak und Mustafa Yüzbaşıoğlu, die in der linksdemokratischen Bildungsgewerkschaft TÖB-DER organisiert waren. Als tags darauf den zwei Opfern das letzte Geleit gegeben werden sollte, wurde die Trauergemeinde von einem Mob aus tausenden Rechtsextremen und Ultranationalisten mit dem Spruch „Den Kommunisten und Aleviten wird das Trauergebet nicht verrichtet!“ angegriffen. Das Fass zum Überlaufen brachte der Imam Mustafa Yıldız mit folgendem „Rat“:
„Mit Fasten und Beten wird man kein Wallfahrer, wer einen Aleviten umbringt, der gewinnt so viel an Wohltätigkeit, wie wenn er fünfmal nach Mekka pilgern würde. Alle unsere Glaubensbrüder müssen sich gegen die Regierung, Kommunisten und Ungläubigen auflehnen. Wir müssen unser Umfeld von Aleviten und ungläubigen sunnitischen Anhängern der CHP säubern.“
Mobilisierungspropaganda: „Kommunistische Aleviten planen Anschlag“
Nachdem sich die Menge aufgelöst hatte und die Särge achtlos liegen gelassen wurden, machte sich die aggressive Masse, die weder durch das Militär noch durch die Polizei aufgehalten wurde, auf den Weg, um Geschäfte von Angehörigen der alevitischen Glaubensgemeinschaft zu demolieren. Im Zuge der Mord- und Brandschatzungsaktionen verloren drei Menschen ihr Leben. In der Nacht auf den 22. Dezember mobilisierten die Faschisten in sunnitisch geprägten Vierteln die Menschen mit der Botschaft, „kommunistische Aleviten“, die am Tag zuvor „drei muslimische Glaubensbrüder“ ermordet hätten (einige Quellen geben an, dass diese von Sicherheitsleuten erschossen worden waren), würden einen Anschlag planen.
Aus Maraş flüchtende Menschen
Als auch noch einige Mullahs zum Dschihad („heiligen Krieg“) aufriefen, erreichten die Übergriffe auf Linke und alevitische Menschen ihren Höhepunkt. Daraufhin wurden in alevitischen Stadtvierteln systematisch Geschäfte angegriffen, Menschen aus ihren Häusern herausgezerrt und auf bestialische Weise massakriert. Frauen wurden vergewaltigt und Kinder und Alte kaltblütig ermordet. Spätestens die Tatsache, dass die alevitischen Häuser Tage zuvor penibel in Nazi-Manier markiert worden waren, erzeugte den Eindruck eines gezielten Pogroms. An das vom damaligen Polizeipräsidenten Abdülkadir Aksu, der später die AKP mitbegründen und Innenminister von Erdoğan werden sollte, erst am 24. Dezember erteilte Ausgangsverbot hielten sich nur Polizei und Gendarmerie. Obwohl die Situation bereits eskaliert war und im Grunde ein Bürgerkrieg herrschte, griffen militärischen Kräfte nicht ein. Unter diesen Umständen konnten die Faschisten mit ihrer bewaffneten Verstärkung, die aus verschiedenen Städten des Landes angereist war und ihre wichtigsten Anführer als Angestellte der nationalen Lotterieorganisation „Pilli Piyango“ zwecks einer Sonderauslosung (die bereits am 9. Dezember stattgefunden hatte), in Hotels einquartierte, ungestört wüten. Die Parolen gegen jene, die für „kommunistisch, links, alevitisch, ungläubig oder gottlos“ gehalten wurden, waren eindeutig:
„Heute ist der Tag des Dschihad, wer einen Aleviten umbringt, kommt ins Paradies“
„Bringen wir Aleviten um, säubern wir unsere Heimat von ihnen“
„Unser Führer Türkeş ist unter uns, wo ist eurer?“
„Geht und ruft euren ‚Karaoğlan‘ (Spitzname von Bülent Ecevit, der mit der CHP die Regierung damals stellte), damit er euch hilft; unser Türkeş ist bei uns“.
Erst am 26. Dezember wurde über Maraş und einige angrenzende Provinzen der Ausnahmezustand erklärt. Zu dem Zeitpunkt lebte kein einziger Angehöriger der alevitischen Gemeinschaft mehr in der Stadt, denn alle Überlebenden waren bereits geflohen. Die offizielle Bilanz der „Ereignisse“ war erschreckend und ernüchternd zugleich: 111 Tote, mehr als 1.000 Verletzte, über 200 zerstörte oder niedergebrannte Häuser, etwa 100 gebrandschatzte Geschäfte. Alevitische Verbände halten demgegenüber eine Zahl von 500 Ermordeten und sogar mehr durchaus für möglich, geben die Zahl der zerstörten Häuser mit 552 und der gebrandschatzten Geschäfte mit 289 an und kritisieren die niedrigen staatlichen Angaben.
Anklage gegen 804 Rechtsextreme
Die folgenden Prozesse, die gegen Beschuldigte des Pogroms in den Gerichten des Ausnahmezustandes eröffnet worden waren, dauerten bis ins Jahr 1991. Insgesamt wurde gegen 804 rechte und rechtsextreme Personen Anklage erhoben (einige Quellen sprechen von 835 Angeklagten). 29 von ihnen erhielten die Todesstrafe, sieben weitere bekamen lebenslänglich und 321 Personen erhielten Strafen zwischen einem und 24 Jahren. Die Beschlüsse wurden jedoch von den Berufungsgerichten verschleppt oder aufgehoben und auch die Todesstrafen sind nicht vollzogen worden.
MHP-Anhänger zeichnen das Symbol ihrer Partei: drei Halbmonde in Anlehnung an die alte Kriegsflagge des Osmanischen Reiches.
Kenger legt Karriere als Parlamentsabgeordneter hin
Auch Ökkeş Kenger, der den Anschlag auf das Kino verübt hatte, wurde zum Tode verurteilt, aber 33 Tage vor dem Militärputsch am 12. September 1980 freigesprochen. Daraufhin änderte er seinen Nachnamen in Şendiller und startete eine politische Karriere. 1989 kandidierte Kenger als Bürgermeister für Maraş, wobei er die Wahl verlor. 1991 wurde er Abgeordneter der Partei der nationalistischen Arbeit (MCP) – so hieß die MHP für einige Jahre, nachdem sie vom Putschregime verboten wurde und mit der islamistischen Refah-Partei ein Wahlbündnis eingegangen war – und war sogar Mitglied des parlamentarischen Untersuchungsausschusses für Menschenrechte. 1992 gründete Kenger zusammen mit Muhsin Yazıcıoğlu, dem Gründer des rechtsextremen „Ülkücü Ocakları Derneği“, die Partei der Großen Einheit (BBP). 2008, nachdem es zum Streit mit Yazıcıoğlu kam, behauptete Kenger in dem beim staatlichen Sender TRT-1 ausgestrahlten Dokumentarfilm „Labyrinth der Könige“ („Şahların Labirenti“), dass der armenische Journalist Hrant Dink und dessen Freunde für das Pogrom von Maraş verantwortlich seien.
MIT-Berichte: Pogrom von MHP geplant, wir wussten es
Wie Berichte des türkischen Geheimdienstes MIT, die 2012 im Zuge des Prozesses um den Putsch von 1980 an die Öffentlichkeit gelangten, dokumentieren, wurde Ökkeş Kenger am 5. Januar 1979 festgenommen und in Ankara verhört. Laut dem dazugehörigen Protokoll äußerte er auf die Frage, ob er einen Sprengsatz in ein Kino in Maraş, in dem am 19. Dezember 1978 der Film „Wann geht die Sonne auf?“ gezeigt wurde, geworfen habe, dass er es nicht bereue und im Auftrag des stellvertretenden ÜGD-Vorsitzenden gehandelt hätte. Er und seine Gleichgesinnten hätten dies getan, um den Eindruck zu erwecken, dass es „linke Extremisten“ gewesen wären. Der MIT selbst stellt die gewalttätigen Angriffe während des Pogroms von Maraş nicht als politisch extremistisch oder konfessionell (alevitisch-sunnitisch), sondern als „türkisch-kurdisch“ motiviert dar. Angeblich hätte die alevitisch-kurdische Bevölkerung einen eigenen Staat gründen wollen und dies in ihren Demonstrationen frei bekundet. Die MHP und ihre Jugendorganisation, die ja als „Rechte auf Seiten des Staates gegen den drohenden Kommunismus“ stünden, hätten sich unter „Zugzwang“ gesehen, gegen die Bedrohung ein Zeichen zu setzen. In den Dokumenten zeichnet sich das klare Bild ab, dass der MIT bereits im Vorfeld über das geplante Massaker informiert war, es aber unterließ einzugreifen.
Auslöser für Putsch 1980
Das Pogrom von Maraş wird als entscheidender Auslöser für den Militärputsch vom 12. September 1980 betrachtet. In dessen Folge wurde das gesamte Land zu einem Gefängnis unter freiem Himmel. Unter der bis 1989 andauernden Regierungszeit des Putschgenerals Kenan Evren kam es laut Zahlen der Cumhuriyet zu 650.000 politischen Festnahmen, 7.000 beantragten, 571 verhängten und 50 vollstreckten Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen. Von mindestens 128 weiteren Menschen, die im Gefängnis starben, kamen vierzehn an den Folgen des von PKK-Kadern angeführten Todesfastens ums Leben. 73 Personen starben aus natürlichen Gründen in Polizeihaft, 43 weitere durch Suizid. In 210.000 Prozessen wurden 230.000 Personen vor Gericht gestellt, darunter 98.404 Personen als „Anhänger illegaler Organisationen“. Mindestens 300 Menschen wurden auf der Straße durch „unbekannte Täter“ ermordet. Diese Tradition des „Verschwindenlassens“ erreichte in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt. Heute geht man von rund 17.000 Menschen aus, die von Sicherheitskräften oder paramilitärischen Strukturen verschwunden gelassen wurden.
Massaker von Çorum, Pogrom von Sivas
Nur Jahre nach dem Ende des Prozesses gegen die Verantwortlichen des Maraş-Pogroms wurde am 2. Juli 1993 in Sivas (ku. Sêwas) unter den Hassrufen eines Mobs von über 5.000 Islamisten ein Massaker an alevitischen Intellektuellen verübt. 33 Künstlerinnen und Künstler sowie zwei Angestellte des Hotels Madımak, in dem die Gäste eines Kulturfestivals logierten, wurden bei lebendigem Leibe verbrannt. Bereits kurz nach dem Massaker in Maraş begann am 27. Mai 1980 das Pogrom von Çorum, in dessen Verlauf von der Regierung aufgestachelte Rechtsextremisten bis Juli 57 Alevit:innen ermordeten und mehr als 300 verletzten. Auch diese Täter lebten ein Leben in Freiheit. Die Geschichte zeigt: Wenn das Massaker von Maraş wirklich gerecht verfolgt worden wäre, dann hätte es die Pogrome in Sivas und Çorum nicht gegeben.