Identität, Erbe, Perspektive
Im Anschluss an den 12. Kongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), auf dem vor drei Wochen die Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung sowie die Auflösung der organisatorischen Struktur der PKK beschlossen wurde, äußerte sich die Kongressdelegierte Hemrîn Dersim mit einer politischen Bewertung des Transformationsprozesses. Ihre Stellungnahme gewährt Einblicke in die ideologischen und strategischen Selbstverständnisse der kurdischen Befreiungsbewegung in einer Phase der Neuorientierung.
Zwischen Kontinuität und Wandel: Die Bedeutung des ideellen Erbes
Dersim betont zunächst die emotionale Tiefe, mit der viele Mitglieder der kurdischen Bewegung auf den Beschluss reagierten, die organisatorische Struktur der PKK aufzulösen. Gleichzeitig verweist sie auf den langfristigen, generationenübergreifenden Charakter des kurdischen Befreiungskampfes, dessen Ausgangspunkt – der Aufbau einer widerständigen kollektiven Identität – nicht auf das organisatorische Fortbestehen der Partei beschränkt sei: „Für uns ist die Frage nicht mehr, ob der Name PKK weitergeführt wird, sondern wie wir das geschaffene ideelle und politische Erbe weiterentwickeln können.“
Aus ihrer Sicht habe die PKK ein gesellschaftliches Fundament geschaffen, das weit über Parteigrenzen hinausgehe und sich zu einer transnationalen Bewegung ausgeweitet habe. Diese historische Leistung sei nicht nur Resultat organisatorischer Disziplin, sondern das Ergebnis eines kollektiven Kampfes, in dem über 45.000 Menschen ihr Leben verloren hätten.
Eine „neue Etappe“ im Zeichen von Abdullah Öcalans Strategie
Hemrîn Dersim äußerte, in der politischen Strategie des PKK-Begründers Abdullah Öcalan die Aufforderung zur radikalen Weiterentwicklung des bisherigen Paradigmas zu erkennen: Weg von militärischer Konfrontation – hin zu einem umfassenden Konzept des Aufbaus demokratischer Gesellschaften. Dabei hebt sie hervor, dass sich das Selbstverständnis der Bewegung vom militanten Widerstand zur zivilgesellschaftlichen Gestaltung wandeln müsse: „Wir wissen, dass unsere Aufgaben mit dem Wandel gewachsen sind. Demokratische Gesellschaft muss jetzt konkret werden – im täglichen Handeln, im Aufbau alternativer Strukturen, in der Bildung, in der Sprache, in der Organisation von Gemeinschaft.“
Kritik an staatlicher Blockadehaltung und Perspektive auf Selbstwirksamkeit
Gleichzeitig verweist Dersim auf die anhaltende Gewalt der Türkei, die weiterhin auf militärische Mittel setze und keinen Raum für einen Dialog eröffne. „Das ist ein krasser Kontrast zur angestrebten Friedensstrategie der kurdischen Bewegung.“ Die Rolle der Guerillakräfte – insbesondere der Frauen – sieht Dersim deshalb weiterhin als eine tragende Säule im Schutz des erreichten Status quo und in der Verteidigung der Bewegung gegen Assimilations- und Vernichtungsstrategien. „Solange der Staat keinen glaubwürdigen Schritt in Richtung Frieden geht, werden wir unsere Position nicht aufgeben. Doch unser Ziel ist nicht der bewaffnete Widerstand – es ist die demokratische Umgestaltung der Gesellschaft.“
Der Wandel als kollektiver Auftrag
Insgesamt versteht Hemrîn Dersim den gegenwärtigen Wandel nicht als Abkehr vom bisherigen Weg, sondern als eine Vertiefung der revolutionären Verantwortung. Die Bedeutung des 12. PKK-Kongresses bestehe darin, das politische, kulturelle und ideologische Erbe der Bewegung in eine neue historische Phase zu überführen – eine Phase, die sich durch zivilgesellschaftliches Engagement, internationale Vernetzung und demokratische Praxis auszeichnen müsse.
Die Herausforderungen dieses Übergangs sind nach Hemrîn Dersims Worten groß, aber nicht unüberwindbar – vorausgesetzt, die Bewegung bleibt sich selbst und ihrer Basis verbunden. Ihr persönliches Fazit: „Was zählt, ist nicht der Name, sondern die Zukunft des Erbes. Und dieses Erbe gehört heute Millionen Menschen – nicht nur in Kurdistan, sondern weltweit.“