Wegen des Vorwurfs der Gefährdung der nationalen Einheit und territorialen Integrität der Türkei sind sieben Kurden aus der Provinz Colemêrg (tr. Hakkari) verhaftet worden. Mit der Entscheidung vom Montagabend kam die diensthabende Strafabteilung am Amtsgericht Yüksekova (ku. Gever) einer Forderung der Generalstaatsanwaltschaft des Landkreises nach, die eine lebenslängliche Haftstrafe fordert. Die Männer werden beschuldigt, verantwortlich für die Explosion eines Militärfahrzeugs vor einer Woche in Gever zu sein.
Bei der Detonation eines gepanzerten Personentransporters vom Typ BMC Kirpi (tr. Igel) waren mehrere türkische Soldaten getötet und verletzt worden. Obwohl sich kurz danach die kurdische Frauenguerilla YJA Star zu der Aktion bekannte, veranstaltete das Militär eine Hetzjagd gegen die Zivilbevölkerung. Noch am selben Abend wurden zehn Bewohner der Dörfer Pagê (Çukurca) und Yêkmala Jêri sowie zwei Hirten festgenommen. Die Dorfbewohner wurden nachts wieder freigelassen, die Hirten Levent Er und Harun Geçirgen befanden sich bis gestern in Gewahrsam und sind nach der richterlichen Vernehmung an das Gefängnis von Hakkari überstellt worden.
Vergangenen Freitag wurden zwei junge Männer aus dem Dorf Mûşan bei Gever vom türkischen Militär verschleppt. Wie sich später herausstellte, sollten Davut Sarıtaş und Abbas Kırmızıtaş im Operationsgebiet gegen die kurdische Guerilla als Kanonenfutter verheizt werden. Auch sie sind nun verhaftet worden. Ebenfalls zur siebenköpfigen Gruppe der Inhaftierten gehören Rıfat Ekici, Menderes Ekici und Memduh Akbaş, die am Samstag bei Hausdurchsuchungen festgenommen worden waren. Nach Angaben von Rechtsanwälten sind alle sieben Männer vom Militär misshandelt und gefoltert worden. Die Festnahmedauer deutet zudem darauf hin, dass sie unter Folter zu „Geständnissen” gezwungen wurden. Seit dem Wochenende läuft in Gever eine neue Operation.
Racheakte als „Aufstandsbekämpfung”
Die Zustände in Gever deuten auf einen weiteren Racheakt der türkischen Armee an der kurdischen Bevölkerung hin. Racheakte an Zivilpersonen für Verluste in den eigenen Reihen, insbesondere durch Niederlagen gegen die Guerilla bei der „Aufstandsbekämpfung”, sind Teil der sogenannten Antiterrorstrategie des türkischen Staates. Als jüngstes Beispiel hat sich die Hubschrauber-Folter an zwei Dorfbewohnern aus Wan ins Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft gebrannt. Die beiden Männer waren vergangenen September nach einer verlustreichen Militäroperation während der Feldarbeit verschleppt, misshandelt und aus einem Helikopter der türkischen Luftwaffe gestoßen worden. Während Osman Şiban (51) vermutlich für den Rest seines Lebens gezeichnet sein wird von der erlebten Gewalt, ist der 55-jährige Servet Turgut am 30. September 2020 nach 20 Tagen im Koma seinen Verletzungen erlegen.
Ende Juni sind in Riha (Urfa) vierzehn kurdische Zivilist:innen zu insgesamt fünfzig Jahren Gefängnis verurteilt worden. Es handelt sich um Personen, die im Mai 2019 bei einer Operation als Reaktion auf eine Auseinandersetzung zwischen Guerillakämpfern und der Polizei festgenommen und von Sicherheitskräften gefoltert worden waren. Fotos, die damals publik wurden, machten sprachlos vor Entsetzen und Wut. Sie zeigten einen Teil der Betroffenen mit den Händen auf dem Rücken gefesselt auf dem Boden des Kommandopostens der Militärpolizei liegend.
In Licê bei Amed (Diyarbakir) wurden im Januar 27 Personen wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft verhaftet, darunter auch Senioren. Vorangegangen war ein Gefecht mit der Guerilla, bei dem ein Soldat getötet und drei weitere verletzt wurden. Mehrere Dörfer in dem Landkreis waren über mehrere Wochen von der türkischen Armee belagert worden. Immer wieder kam es im Verlauf der Kesselung zu Hausdurchsuchungen, bei denen die Bewohner:innen Opfer von Misshandlungen und Beschimpfungen durch Angehörige von Polizei und Armee wurden.
Anklage nach Artikel 302
Wann es zur Hauptverhandlung gegen die sieben Männer aus Gever kommt, ist noch unklar. Zuerst muss die Anklageschrift beim Gericht eingehen. Stützen wird sich die Anklage auf Artikel 302, dem schwerstwiegendsten Paragrafen im türkischen Strafgesetzbuch. Im Text heißt es: „Wer die territoriale Integrität des Staates vollständig bzw. teilweise unter die Souveränität eines fremden Staats stellt, die Einheit des Staates zerstört, einen Teil des Staatsgebietes abtrennt sowie Taten begeht, die die Unabhängigkeit des Staates schwächen, wird zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.” Bei Verurteilung zu erschwerter lebenslanger Haft sind in der Türkei 39 Jahre zu verbüßen und bei einfacher lebenslanger Haft sind 30 Jahre vor einer bedingten Haftentlassung abzusitzen.