Die Türkei konkretisiert ihre Drohung gegen das Flüchtlingslager Mexmûr. In dem etwa 60 Kilometer südwestlich von Hewlêr (Erbil) liegenden Camp ereignete sich am Samstag ein Drohnenangriff. Ob Menschen zu Schaden gekommen sind, war zunächst unklar. Eingeschlagen ist die Drohne vor dem Eingang zu einem Kinderspielplatz. In unmittelbarer Nähe befinden sich auch die Schulen des Lagers.
Offenbar testet die türkische Regierung mit dem Angriff internationale Reaktionen aus. Erst am Montag drohte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wieder mit einer „Säuberungsaktion“ in Mexmûr. Es handele sich um eine „Brutstätte“ von Qendîl und sei für die Türkei „genauso wichtig“ wie die Bergregion selbst, in der Ankara die PKK-Führung vermutet. Sollten die Vereinten Nationen (UN) das Camp nicht „säubern“, werde es die Türkei als UN-Mitglied selbst tun, sagte Erdoğan im Staatssender TRT.
Im Flüchtlingslager Mexmûr, das offiziell unter dem Schutz des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) steht, leben heute etwa 13.000 Menschen. Die meisten von ihnen waren in den 1990er Jahren aufgrund der Repression des türkischen Staates und der Politik der verbrannten Erde gezwungen, ihre Dörfer in der Botan-Region in Nordkurdistan zu verlassen. Nach einer mehrjährigen Odyssee und Aufenthalten in verschiedenen Camps haben sie 1998 am Rand der Wüste das Lager Mexmûr gegründet. Die Campbevölkerung bildet damit die größte kurdische Flüchtlingsgemeinschaft weltweit. Heute ist Mexmûr mit seinen tausenden Kindern, die dort in die Staatenlosigkeit geboren wurden, eine Kleinstadt und trotz Armut, stetiger Bedrohung und Angriffen – ob durch die Türkei oder den IS – ein Ort des Friedens und der kollektiven Selbstbestimmung. Seit zwei Jahren ist es einem willkürlichen Embargo durch die Autonomieregierung in Hewlêr ausgesetzt.
KNK: Schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts
Der Nationalkongress Kurdistan (KNK) zeigt sich äußerst besorgt angesichts der Drohgebärden Erdoğans. „Ein solcher Angriff würde eine schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts und ein Verbrechen gegen eine extrem gefährdete Flüchtlingsbevölkerung darstellen“, hieß es am Freitag in einer Stellungnahme. Die UN und das UNHCR werden vom KNK aufgefordert, Erdoğan an die „Verpflichtungen der Türkei aus internationalen Verträgen und dem humanitären Völkerrecht zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass die andauernden Drohungen gegen die Schutzsuchenden in Mexmûr und jede weitere militärische Aggression nicht hinnehmbar sind“. Zuletzt war Mexmûr letzten Sommer von der türkischen Luftwaffe bombardiert worden, ganze Anbauflächen wurden dadurch zerstört. Zuvor starben im April drei Zivilistinnen bei einem bewaffneten Drohnenangriff. Ende 2018 wurden vier Mitglieder der Selbstverteidigungseinheiten, die das Camp vor möglichen Angriffen des IS schützten, bei einem türkischen Luftangriff getötet.
Staatliche Medien diffamieren Bewohner als „Terroristen“
Auch die staatlich gelenkten Diffamierungen gegen die Menschen in Mexmûr durch regierungsnahe türkische Medien, wonach die 13.000 Camp-Bewohner:innen „Terroristen“ seien und damit eine „Gefahr für die Landesgrenzen“ in 180 Kilometer Entfernung darstellen würden, sorgen innerhalb der kurdischen Gesellschaft für Beunruhigung . Der Berg Qereçox, der etwa drei bis vier Kilometer vom Flüchtlingslager entfernt liegt, wird medial zum „PKK-Stützpunkt“ umgewidmet, obwohl sich dort IS-Söldner aufhalten. In den Tiefen dieser Bergkette haben die Dschihadisten nach den Angriffen von 2014 mehrere Lager aufgeschlagen – nur wenige hundert Meter entfernt von den Stützpunkten der Peschmerga der Autonomieregion Kurdistan-Irak (RKI). Von dort aus griffen sie in den letzten Jahren immer wieder die Bevölkerung des Camps an. Sie stellen somit eine permanente Gefahr für die Menschen in Mexmûr dar, weil sie wie ein Damoklesschwert über dem Lager schweben. Regelmäßig fliegt die internationale Anti-IS-Koalition Luftschläge gegen die Dschihadisten am Qereçox.
Keine Reaktionen aus Hewlêr oder Bagdad
„Wir fordern die Vereinten Nationen gleichzeitig auf, Erdoğans anhaltende Verletzungen der irakischen Souveränität sowie die Drohungen und Angriffe gegen Zivilisten in Mexmûr und anderswo im Land zu verurteilen und mit der irakischen Regierung und den örtlichen Behörden zusammenzuarbeiten, um das Embargo gegen das Flüchtlingslager zu beenden, Hilfslieferungen in das Camp zu ermöglichen und die Sicherheit der Bewohner:innen zu gewährleisten“, führt der KNK in seiner Erklärung weiter aus. Es müssten dringend „notwendige Maßnahmen“ ergriffen werden, um die Bevölkerung in Mexmûr zu schützen und die „türkischen Aggressionen“ zu stoppen. Die PDK-geführte Regierung in Hewlêr oder die irakische Zentralregierung in Bagdad haben sich zum heutigen Angriff auf das Flüchtlingslager bisher nicht geäußert.